Es ist Sonntag, der 27. Februar, 20.30 Uhr. Für gewöhnlich liege ich an Sonntagen um diese Zeit bereits regungslos und von den Flüchtigkeiten des Wochenendes erschöpft im Bett, löffle genüsslich meine Häagen-Dazs Eiscreme, obwohl sich schon längst ein flaues Gefühl im Magen breit gemacht hat. Dabei lasse ich mich bereits seit mehreren Stunden vom Netflix Angebot berieseln. An Sonntagen versuche ich, den Kopf gänzlich abzuschalten. Ich nehme mir nichts vor. Es gibt nur mich, mein Bett, meine Eiscreme und leider: auch hin und wieder diese ungemütlichen Gedankengänge, welche sich unaufhörlich durch mein Kopf bohren, wie der Löffel durch mein Lieblingseis wenige Minuten zuvor.

Ich versuche, so gut ich kann, mir selbst Gelassenheit vorzugaukeln, doch es gelingt mir einfach nicht. Sobald ich erst einmal zur Ruhe komme, spielen meine Gedanken verrückt. Gute Laune, schlechte Laune, nachdenklich, glücklich – alles kann, nichts muss. Zunächst zielstrebig in die positive, oder eben negative Richtung – dann mit Vollgas kreuz und quer. Die Erfahrung hat mich gelehrt, dass gerne auch mal alles über mich hereinbricht.

Das Futter meiner nicht-im-Schlaf-stattfindenden Alpträume: Unstimmigkeiten im Freundes- und Bekanntenkreis, tagtägliche Nachrichten, an die ich mich nicht gewöhnen kann oder will, utopische Vernarrtheit und manchmal eben auch Ängste. Wer kennt es nicht. Ich verstehe nur Bahnhof und stehe zu guter Letzt auch noch an dem am Bahnhof, an dem mich niemals jemand abholen wird. Immer wieder sonntags. Ich ertrage ich es nicht mehr.

„Ich verstehe nur Bahnhof und stehe zu guter Letzt auch noch an dem am Bahnhof, an dem mich niemals jemand abholen wird. Immer wieder sonntags.“

 

Auch an diesem Sonntag bleibt alles beim Alten. Fast. Denn heute bricht die Gefühlsachterbahn nicht wie gewohnt im heimischen Bett in Berlin über mich hinein, sondern im Bus auf dem Weg zum Flughafen Sabiha Gökcen Istanbul. Richtig gelesen, ich habe dieses Wochenende nicht in Berlin verbracht. Ich bin geflohen, musste raus. Anderes sehen, anderes erleben, anderes denken, anderes fühlen, Zerstreuung! – alles musste anders sein. Zumindest für dieses Wochenende.

Am Donnerstagabend spontan gebucht, ging es für mich bereits Freitagnachmittag ins Land der aufgehenden Sonne mit der Hoffnung, mein trübes Seelengewandt von mir zu streifen, wie die Bettdecke, unter der ich vor Gefühlsduseleien abwechselnd schwitze und friere. Was habe ich diese Auszeit gebraucht – so kurz sie auch war.

Nun lehnt mein Gesicht an der Scheibe des Busses, der mich wieder zum Flughafen bringt. Durch die Scheibe sehe ich die verschwommenen Großstadtlichter im beschlagenen Glas an mir vorbeiziehen und verdrücke mir eine Träne , während Apparats „Goodbye“ in Dauerschleife aus den Kopfhörern säuselt. Ich bin mir nicht ganz sicher bin, ob mich diese musikalische Untermalung abholt, oder noch tiefer in den Sitz sinken lässt. Es ist fast wie in einem schlechten Film. Mit dem Unterschied, dass das hier Realität ist.

Wieder sitze ich mit fest gezurrten Gurten in der allsonntäglichen Gefühlsachterbahn, nur eben nicht im heimischen Bett, sondern im Bus auf dem Weg zu dem Ort, der mich genau dort drei Stunden später wieder – vielleicht ebenso unruhig – dafür aber mit einer sicheren Gewissheit schlafen lässt. Der Gewissheit, dass es manchmal eben doch ein Leichtes ist, abzuschalten, wann immer einem das Herz es auch sagt. Ich besitze dieses Privileg, welches weder meine Eltern, noch Großeltern nie hatten. Ich ziehe die Reißleine. Jetzt. Auf gleich. Ich bin weg. Weit weg.

Ausbrechen, wann immer man will. Eine Wunschvorstellung? Nein! Doch vor allem das mentale Loslassen, für den Moment, will wohl oder übel gelernt sein. Früher – also noch vor zwei bis drei Jahren – wusste ich nicht wie. Wie auch? Hätte es mir einer gesagt, hätte ich womöglich lächelnd abgewunken. Denn, wie so vieles in meinem Alter, braucht es den ersten eigenen Anstoß, die erste eigene Einsicht und ja, die erste eigene Erfahrung. Mit mir, mit dem Abschalten und letztendlich, wie ich all das am Besten kann. In Istanbul habe ich es vor zwei Jahren gelernt. Funktionierte damals schon so überraschend gut – wie auch dieses Mal. Besser denn je!

„Ab und an tut es gut, diesen symbolischen Befreiungsschlag auszuleben, von meinem Gedankenschrott,
meiner Umwelt und mir, nachdem ich zu lang denselben Weg zur Arbeit ging,
oder den gleichen Whiskey Sour in jener nur zu heimischen Bar trank.“

 

Wahrscheinlich war es nicht einmal die von mir selbst auferlegte Auszeit. Wahrscheinlich lag es nicht einmal an der Distanz zu meinen Sorgen in Berlin, oder zu Berlin selbst. Vielmehr ist es diese kindlich neugierige Liebe zum Fremden oder einer Stadt, die so ganz anders, als all das ist, was mich hier umtreibt. Sowie auch die schönen Erlebnisse, die eine (vor allem so spontane und nicht mit Erwartungen gespickte) Reise immer wieder aufs Neue mit sich bringt.

Reisen bildet und du kannst gar nichts dagegen tun. Ab und an tut es gut, diesen symbolischen Befreiungsschlag auszuleben, von meinem Gedankenschrott, meiner Umwelt und mir, nachdem ich zu lang denselben Weg zur Arbeit ging, oder den gleichen Whiskey Sour in jener nur zu heimischen Bar trank. Eben die Gewissheit, nicht alles allein in mich reinfressen zu müssen, wie das Häagen-Dazs Eis an einem jeden Sonntag Abend. Und noch viel wichtiger: alles auch an Ort und Stelle verarbeiten zu müssen. Auf mich allein gestellt, ohne die vertrauten und liebevoll gehegten Verdrängungsmechanismen – weicht der Verdrängung eine Art von wohltuend harter Selbsterkenntnis.

Verdrängung, obwohl ich versuche, mich größtenteils davon zu verabschieden – lässt mich meine Kämpfe, Zweifel und Ängste mit mir selbst austragen. Dann ist es an der Zeit für einen Tapetenwechsel, welcher die Schönheit, Vielfalt und vor allem Leichtigkeit des Unpersönlichen mit sich bringt. Und dann wird mir wieder klar, auch wenn ich renne und manchmal – man kann es nennen wie man will – wegrenne, ist und bleibt mein Weg, das Ziel, wieder auf einen Nenner mit mir und meiner Umwelt zu finden. Oder auch nicht.

Inspiration zu finden, gar neue Wege einzuschlagen, ein neues, ein anderes Ich. Mir ist bewusst, dass ich um die seelischen Wogen nicht umhin komme. Allerdings habe ich gelernt, mich locker zu machen, um keine unnötigen Extra-Runden auf der Moebiusschleife durch Himmel und Hölle drehen zu müssen. Nach zweiwöchigen Gefühlsduseleien, die meinem Kopf und schließlich auch meinem Herzen drohten, löchrig wie einen Schweizer Käse zu bohren, werfe ich im Bus zum Flughafen Istanbul die Gefühle über Bord, damit sie mir so schnell keine weiteren schlaflose Nächte bereiten. Danke, es geht mir gut. Es geht mir besser denn je!