„Ich kann gerade nicht mit Berlin!“ – sage ich. Das ist einfacher. Versteht jeder. Wird nicht hinterfragt. Wie eine Todesanzeige. Das ist eben so. Gerade jetzt – im Winter. Ohnehin wollen die meisten nicht wissen was wirklich Sache ist, genau wie ich. Wie überall auf der Welt klebt die Wahrheit an den vier, fünf Händen jener Menschen, die dich besser kennen als alle anderen und ohnehin wissen, dass dieser Satz purer Blödsinn ist. Doch funktioniert’s: Du musst Berlin nur kurz ablaufen und wirst keinen, ausnahmslos keinen treffen, dem die Stadt nicht schon mal zum Hals raushing. Seit 14 Jahren lebe ich hier. Das ist ’ne Menge Hauptstadt. Da hängt ’ne Menge raus. Es wäre also ein Leichtes, es dabei zu belassen. Einfach Berlin die Schuld zu geben. An allem. Berlin, du bist Schuld!
„Bullshit. Norman was schreibst du da! Du lügst.“, denke ich. Das ist nicht Berlin. Das ist nicht der Winter. Ich bin das. Ich bins. i-ref Norman. Travel Norman. Social Media Norman. Fitness Norman. Schwuli Norman. Mit all dem Pipapo. Ganz ehrlich, ich will’s mir gar nicht vorstellen: Seit 14 Jahren renne ich hier rum, grinse und flirte, liebe und lache, flenne und jammere was das Zeug hält. Doch letzte Woche, oh Lord, es ist einfach nur zum Brüllen: Letzte Woche war ich die wohl männlichste Bridget Jones, die Berlin jemals gesehen hat.
Es sollte das erste und vorweg, auch das letzte Mal sein, dass ich „Zwischen den Jahren“ in Berlin verbringe. Die Firma hatte ich geschlossen. Ganz einfach weil’s nichts bringt. Man erreicht nix und will auch nix. Mein Mann ist seit drei Wochen in Indien. Mein bester Freund ist frisch verliebt und die drei auserwählten Frauen in meinem Leben sind nicht in der Stadt.
Also Norman, haha, ja jetzt geht’s um dich. Es geht – so richtig – um die Wurst. Ums Leben. Leben und leben lassen. Um’s fallen lassen. Um’s entspannen. Um Berlin. Berlin und dich. Vier Tage lang. Also leg los. Stürz dich rein, ins wilde Abenteuer. Ins Abenteuer mit dir selbst. Mach das, was du immer machen wolltest. Wofür dir sonst die Zeit fehlt. Schau dir an, was du bisher verpasst. Ruf sie an, die tollen Leute, die du immer so gerne treffen willst. Ließ endlich die Bücher, die du nie ließt. Schreib dein Buch, schreib deine Kolumne. Oder date – irgendwen. So ein richtig heißes Ding oder nen’ zornigen Berghain Bullen. Besser gleich zwei. Mach. Mach. Mach. Ja. Ja. Ja. Geil. Geil. Geil. Mach ich alles. Doch erst mal, ja erst mal – rauchen.
Drei Stunden später sitze ich noch immer da: Glotze Netflix. Bin online. Es ist der 28. Dezember 2015 und ich rauche. Ongoing. Ein Tag später glotze ich Netflix, gehe zum Sport, in die Sauna, rauche wieder und chatte. Ich verschicke Nachrichten nach Australien und Südafrika und schreibe den fünf Leuten, die nicht da sind, um ihnen zu sagen, dass es schade ist, dass sie nicht da sind. Ich rufe zuhause an. Morgen treffe ich eine Freundin. Krass, doch jemand hier. Dann gehe ich wieder zum Sport, bin online und hab mittlerweile alle 800 Millionen Menschen auf Instagram geliket. Ich hatte Bücher in der Hand, wollte Texte schreiben, wollte schlafen, entspannen und Menschen treffen – ich habe nichts davon getan. Weil ich nicht wollte. Weil ich keinen Bock hatte! Weil ich feststellen musste, dass nichts, wirklich gar nichts unentspannter ist als Entspannung.
„Junge, genieß doch mal die Auszeit!“ sagt Mutti. Und ich denke nur: „What?“ Wenn dir irgendeine Tradition vorgibt, dass du hier und jetzt runter schalten sollst, dass du nur bist was du bist, weil du kannst was andere können, ein Mensch wie jeder andere. Ein Mensch der abschalten kann. Doch nicht ich. Ich kann das nicht. Nichts bewegt sich hier. Kein Stress, kein Lärm, keine Termine, keine Flugzeuge. Mitunter reise ich das ganze Jahr, 50 Prozent real, 50 Prozent im Geiste. Doch in diesen vier Tagen war ich ein Nichts. Ich hab nichts gespürt, weder mich, noch das Leben selbst. Nur eins hatte ich, Zeit. Aus vier Tagen wurden vier Jahre. Aus „zwischen den Jahren“ ein ganzes Jahr. Anstrengend, das alles. Ich habe schon als Kind damit gerungen, dass ich nicht in alles reinpasse, wie ich es sollte. Ob das jetzt Klamotten sind, die Art wie ich Lebe oder gar wie ich liebe. Es war nicht immer leicht, doch hab ich mich durchgeboxt.
Durchgeboxt wie gestern Nacht! Meine Silvesternacht in Berlin. Die Stadt, in der ich lebe, dieser Tage, aber nicht hätte sein sollen. Die Stadt, in der ich mich nach Tagen aus purem Nichts um 03:00 Uhr morgens am 01. Januar 2016 – nach guter Party nebenbei – auf der Friedrichstraße in Mitte wiederfand und einen versoffenen, kotzenden Typen aus dem Taxi zerrte während der Fahrer nur noch plärrte: „Ihr Assis, ich fahr euch nie wieder!“ Es sollte der gleiche Taxifahrer sein, der mir Minuten später erzählen wird, dass man eine „ … Frau auf K.O.-Tropfen nur schwer ficken kann, weil die sich dann einmacht. Da spürt man nix!“
Gestrandet im Wahnsinn der Silvesternacht, zwischen kotzenden Touristen, Eiseskälte und dem wohl dümmsten Taxifahrer aller Zeiten, fiel endlich der Groschen: Morgen bin ich weg. Freunde, ich halte von Vorsätzen selbstverständlich nichts. Aber das passiert mir nicht mehr. Ich wurde eingelullt, von einem Wort, von der Definition um ein Wort, Entspannung. Von der Idee der freien Zeit und einer Gesellschaft, die wie Lemminge vor sich hin wackelt in der Hoffnung, dass alles so kommt, wie man es sich wünscht. Die frei dreht, weil ein Jahr sich dem Ende neigt und sich nur dann geborgen fühlt, wenn alle sagen „Ich hab dich lieb!“
Ich hatte dieser Tage so viel Zeit zum Nachdenken und hätte so viele sinnlose Gespräche wie lange nicht führen können. Ich hätte so vieles machen können was Menschen eben so tun. Ich habe mich dennoch dagegen entschieden. Ich bin was ich bin und das seit nunmehr 34 Jahren. Ich gehöre nicht ruhig gestellt, ich entspanne mich nicht bei einem Buch und treffe keine Menschen, nur um nicht allein zu sein. Ich reise seit Jahren mit meiner selbst, dieser Zustand ist mir nicht fremd. Einsamkeit kenne ich nicht: Meine Freunde, mein Mann, meine Familie, sie sind bei mir, an den entlegensten Orten dieser Welt. Verloren bin ich nur dann, wenn ich nichts mehr sehe. Mich selbst und oder andere. Wenn ich nicht mehr spüre was passiert. Ich das Gefühl habe, ich muss, obwohl ich gar nicht will. Erst dann, werde ich traurig.
Mein Leben, meine Arbeit, meine Familie und Freunde. Das ist alles eins. Das wird immer so sein. Egal wo ich bin. Ich brauche keine Couch, die mich daran erinnert, noch eine Aneinanderreihung von Stunden, um mir dessen bewusst zu sein. Drum danke ich dir, du Idiot von Taxifahrer! Du hast mich erinnert, dass ich nirgendwo sein muss, wo ich nicht sein will. Vier Stunden später saß ich im Flieger nach Paris und trat 2016 etwas später an. Ich kenne in Paris gerade mal zwei Menschen die mir nahe stehen, ich renne auch nicht weg, ich bin nur woanders! Das ist eben der Unterschied: Anderswo sein, ist sein!
Bonjour Paris, Bonjour 2016 – du hättest nicht besser starten können.