Vor fast 2 Jahren starteten wir eine fotografische Reise durch die Welt der wunderbaren Berliner Fotografin Carolin Weinkopf. In regelmäßigem Rhythmus stellten wir auf I-REF ihre Bilderstrecken vor und ließen sie in ausführlichen Interviews zu jedem Reiseziel selbst zu Wort kommen (zum ersten Beitrag geht’s HIER entlang). Wir waren gerade in Marokko angelangt, als Carolin Mutter wurde und wir die Serie deshalb aussetzten. Nun freuen wir uns riesig, dass wir die Serie gemeinsam wiederbeleben können und die noch ausstehenden Teile bei uns präsentieren dürfen. Nächster Halt unserer Reise: Nepal!

Erzähle uns zu Anfang doch kurz, wie viel Zeit du in Nepal zugebracht hast.

Insgesamt fast zehn Wochen. Und zwar zweigeteilt: mein Freund hat damals ein dreiviertel Jahr in Nepal gearbeitet, und ich habe ihn sozusagen hingebracht und wieder abgeholt. Die ersten sechs und die letzten vier Wochen war ich dort, einmal im Frühjahr (vor dem Monsun, in der trockensten Jahreszeit) und einmal im Herbst (als der Monsun gerade vorbei und die Luft ganz klar war).

Du bist zwar zunächst privat nach Nepal gefahren, hast jedoch dort auch u.a. im Auftrag der GIZ und einer lokalen Fairtrade Organisation fotografiert. Was genau hast du für sie gemacht?

Die ersten Tage habe ich die Stadt zu Fuß erkundet und erst einmal meinen (zugegebenermaßen ziemlich starken) Kulturschock überwunden. In Kathmandu gibt es keine richtigen Straßennamen, man findet Orte eher anhand der nächstgelegenen Landmarks und natürlich spricht nicht jeder Englisch. Ich habe mich ständig verlaufen, mir dabei riesige Blasen geholt und mich extrem exotisch und oft auch verloren gefühlt. Mit der Zeit habe ich aber dann ein paar Leute kennengelernt und mir ein paar Brocken Nepali angeeignet.

Ich habe u.a. eine GIZ Delegation in den äußersten Osten des Landes begleitet und dort ein Pilotprojekt biologischer Teeproduktion fotografiert, habe in einem Künstlerkollektiv meinen ersten und glücklicherweise supererfolgreichen Fotografie-Kurs gegeben, Bilder für ein Yogastudio gemacht und das Phänomen Holi-Festival an verschiedenen Orten der Stadt fotografiert.

Nebenbei habe ich fünf Wochen lang Arbeit und Alltag in einer lokalen Fair-Trade Manufaktur dokumentiert. Hier habe ich einen umfassende Einblick in das soziale und häusliche Leben bekommen, in alle Produktionsschritte der unterschiedlichsten Handwerkskünste, den Unterricht in der Schule, das Leben im Waisenhaus, Festivitäten, Konflikte, Sorgen und Problemlösung. In der Gegend um die Manufaktur am Patan Durbar Square tobte das (sehr) einfache Leben.

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Um ehrlich zu sein: wenn wir Nepal hören, denken wir immer an die schneebedeckten Gipfel des Himalaya und den Mount Everest. In deiner Serie ist das Gebirge nur einmal, aus der Ferne zu entdecken. War das eine bewusste Entscheidung, um ein anderes Bild von Nepal zu dokumentieren?

Die meisten Touristen fahren nach Nepal um zu trekken, Kathmandu ist für die nur eine kurze Zwischenstation, bevor es mit klapprigen Bussen oder abenteuerlichen Miniflugzeugen weiter rein ins Gebirge geht. Wir haben in Kathmandu gelebt, so richtig, in einem Zimmer im Haus einer nepalesischen Familie, sind morgens zur Arbeit gegangen und abends zurückgekommen. Unsere Perspektive war also eine andere als die der klassischen Nepalreisenden.

Aus dem Kathmandu-Tal sieht man den Himalaya nur an ganz klaren Tagen, aufgrund der Luftverschmutzung und der Schwüle sind sonst (wenn überhaupt) nur ein paar kleinere, nahegelegene Hügel zu sehen (alles unter 5000 Meter wird in Nepal als Hill, nicht Mountain bezeichnet). In zehn Wochen Nepal habe ich vielleicht drei Mal, auf dem Dach unseres Hauses sitzend, die 8000er in der Ferne aufblitzen sehen.

Natürlich sind wir an freien Tagen auch mal aus der Stadt rausgefahren, jedoch ist Reisen aufgrund holpriger Straßen und schlechter Infrastruktur (Nepal ist eines der ärmsten Länder der Welt) mühsam und auf eigene Faust auch nicht ungefährlich. Wir haben es zwei Mal mit dem Motorrad über eine der schönsten Straßen der Welt bis zur schwerbewachten Grenze nach Tibet geschafft (fühlt sich an wie Reisen auf einem fliegenden Teppich!) und sind so weit es eben ging in Richtung Mount Everest gefahren. Von der Stadt Jiri aus geht es zum höchsten Berg der Welt nur noch zu Fuß weiter.

Das Bild in meiner Serie ist tatsächlich durch ein Flugzeugfenster entstanden, als ich nach meinem ersten Aufenthalt in Nepal von Kathmandu Richtung Delhi flog, um dort umzusteigen. Die Riesen des Himalaya sind so hoch, dass sie auf Reisehöhe auch bei schlechtem Wetter über die Wolken hinausragen. Ich saß glücklicherweise dank der Lektüre einschlägiger Literatur auf der richtigen Seite und hatte einen Fensterplatz: und somit freien Blick auf die höchsten Berge der Welt. Ein absolut einmaliges Erlebnis.

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Nepal ist ein Land, das zwischen zwei sehr starken Kulturen liegt. Auf der einen Seite Indien auf der anderen Seite China. Wie äußert sich das in der nepalesischen Gesellschaft?

Nepal hängt am Tropf beider Nationen, im Norden an China und im Süden an Indien, die Gesellschaft nähert sich aufgrund der Geografie in beiden Richtungen der der Nachbarn an, auch religiös (obwohl Religion dort vor allem spirituellen Regeln folgt). Auch das Kastensystem, welches man im weitesten Sinne mit dem aus Indien vergleichen kann, spielt hier noch eine große Rolle.

Die politische Lage in Nepal ist seit Jahrzehnten instabil, die Monarchie endete 2001 abrupt, als unter mysteriösen Umständen nahezu die gesamte königliche Familie ermordet wurde und nach einem zehnjährigen von Maoisten angeführten Bürgerkrieg hat sich die Lage bis heute nur zeitweise entspannt. Die Maoisten sind heute neben vielen anderen politischen Parteien akzeptiert, aber immer wieder gibt es Unruhen, Putsche und Krisen aus den verschiedensten politischen und ideologischen Gründen. Regelmäßige Generalstreiks bringen das öffentliche Leben zum erliegen. Von politischer Stabilität ist Nepal leider sehr, sehr weit entfernt.

Bis heute gibt es keine Verfassung, ihre Implementierung wird immer wieder verschoben. Außenpolitische Krisen mit China und/oder Indien merkt man vor allem auf der Straße, da dann der Benzinhahn aus dem Ausland zugedreht wird. An solchen Tagen sind die Straßen leer und die Schlangen vor den Tankstellen lang. Nepal ist auf den Import von Benzin und Diesel vor allem aus Indien angewiesen. Hier wird viel gepanscht und gestreckt, was zu noch mehr Smog über der Stadt führt.

Zusätzlich gibt es in Nepal aufgrund des explosionsartigen Bevölkerungswachstums und der fehlenden Infrastruktur ein riesiges Stromproblem. Elektrizität wird in Kathmandu nach Stadtteilen rationiert und nur zu bestimmten Uhrzeiten kommt Strom aus der Leitung. Nachts ist die Stadt überall dort stockfinster, wo sich die Menschen keine Generatoren (wozu wieder Benzin benötigt wird) oder Stromspeicher leisten können. Ungeplante Stromausfälle passieren ständig und schränken die Produktivität des ohnehin schon gepeinigten Landes noch zusätzlich ein. Gute Ideen sind so sehr schwer umsetzbar und häufig scheitert es nicht am Willen oder Können der Leute, sondern einfach am Mangel an Rohstoffen.

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Nepal ist aufgrund der eher schwach ausgebauten Infrastruktur ein Land der Fußgänger. Auf einigen deiner Fotos sehen wir Straßen, die in die Weite führen und Menschen, die, teils alleine, teils in Gruppen zu Fuß unterwegs sind. Wie hast du dich dort fortbewegt?

Ein Großteil des Lebens spielt sich in Nepal auf der Straße ab. Hier wird gelacht, gespielt, getanzt und auch häufig gearbeitet. Was die Fortbewegung angeht: Kurze Strecken werden vor allem von Frauen und Kindern sowie von den Ärmsten der Armen gelaufen, aber ansonsten ist Nepal ein Land der motorisierten Zweiräder und Klein(st)wagen. Das absurde daran ist, dass man innerhalb der Stadt zu Fuß tatsächlich meist viel schneller ist. Die Straßen sind verstopft mit Motorrädern, Mopeds, Fahrrädern, Motor-Rikschas und Tuk-Tuks. Es ist ein unglaubliches Chaos und man braucht viel Geduld, um von A nach B zu kommen.

In der Stadt sind viele Fotos durch die Fenster von winzigen, klapprigen und sehr abenteuerlichen Taxen entstanden, ich bin viel zu Fuß durch die Stadt gelaufen (im Gegensatz zu den meisten Einheimischen), hatte auf der Fahrt in die Teeregion einen Fahrer und fotografische Narrenfreiheit; und außerhalb der Stadt habe ich meist bei voller Fahrt einhändig vom Rücksitz des Motorrads meines Freundes fotografiert. Im Rückblick finde ich das selbst ein bisschen… nennen wir es: lebensmüde, aber diese Fahrten auf dem „fliegenden Teppich“ gehören zu meinen einprägsamsten Erinnerungen und waren fotografisch wohl die beste Übung. Ich kann mit Stolz sagen, dass ich während diesen holprigen Fahrten – über schmale Bergpässe, durch Wasserfälle hindurch und über riesige Schlaglöcher hinweg – gestochen scharfe Bilder von Mensch und Tier geschossen habe.

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Die Fotos zeigen auch einen Kontrast zwischen Stadt und Land, zwischen großstädtischem Leben und dem traditionell bäuerlichen. Würdest du diese Interpretation bestätigen? Welchen Eindruck hattest du von der Hauptstadt Kathmandu?

Die Stadt ist teils ein atemberaubend schönes Freilichtmuseum und teils ein unglaublicher Moloch. Wer dort lebt und es sich leisten kann, der fährt wann immer es geht aus der Stadt heraus, um einmal frische Luft zu schnappen. Wir hatten nicht viel Zeit und Geld für größere Trips, aber wir sind manchmal abends aus der Stadt herausgefahren und haben uns den Sonnenuntergang über den Terrassenfeldern angeschaut, die verhältnismäßige Ruhe und die frische Luft genossen.

Kathmandu ist dreckig, eng, völlig überfüllt und wahnsinnig chaotisch. Dennoch wachsen in den Hinterhöfen Gemüse und Reis, auf den Dächern trocknet Wäsche, auf den Strommasten turnen wilde Affen herum und in den Bäumen sitzen bunte Papageien und riesige Raubvögel. Hinter jeder Straßenecke verbirgt sich ein Tempel oder Schrein, auf Bordsteinen finden sich farbenfrohe Opfergaben und die Menschen sind wunderschön gekleidet. Das Essen ist zwar recht einseitig, aber köstlich, und die Menschen sind offen und besonnen.

Die Zeit dort hat mich sehr geprägt und viele scheinbare Selbstverständlichkeiten und Standards in meinem Leben gerade gerückt. Wenn sich die Möglichkeit ergibt, möchte ich unbedingt noch einmal nach Nepal, länger dort leben möchte ich aber nicht. Neben vielen anderen Gründen auch, weil es dort sehr viele Expats, „Freiwillige“ und Backpacker gibt, mit deren Lebensstil und Einstellung ich mich nur selten identifizieren konnte. Für Ausländer heißt ein Leben in Nepal häufig, in einer Villa hinter hohen Mauern zu leben, mit nepalesischem Hauspersonal, die Kinder auf einer teuren Privatschule, die Freunde andere Expats. Touristen hingegen bewegen sich meist gar nicht aus dem „Hostel-Ghetto“ namens Thamel hinaus, konsumieren billige Drogen und besaufen sich in kulissenhaften Bars, in denen ein Bier soviel kostet wie ein nepalesischer Arbeiter in der Woche verdient. All das ist nicht meine Welt.

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Wie war es dort zu fotografieren? Wird man als Fotografin eher als Fremdkörper wahrgenommen oder sind die Nepalesen da ganz offen?

Gerade Kinder sind unheimlich offen und reißen sich geradezu darum, fotografiert zu werden (ein häufig gehörter Satz: „One photo please!“). Das führt schnell zu den Klischeebildern, die viele Reisende aus Südasien mitbringen. Davon kann auch ich mich nicht freisprechen, aber diese Bilder findet man bewusst nicht im meinem Portfolio.

Insgesamt sind Nepalis sehr freundlich und aufgeschlossen. Trotz oft bitterer Armut legen sie sehr viel Wert auf Ästhetik und lassen sich in aller Regel sehr gern fotografieren. Ich hatte nach einer kurzen Eingewöhnungszeit eigentlich nie Probleme, auf die Menschen zuzugehen, weil sie mir fast immer sehr interessiert und offen gegenübergetreten sind. Wie ein Fremdkörper habe ich mich dennoch oft gefühlt, schließlich ragte ich als blonde und durchschnittlich große Mitteleuropäerin meist ein bis zwei Köpfe aus der Masse heraus und fiel natürlich auf. Das selbe Phänomen war mir aber an anderen Orten der Welt schon sehr viel unangenehmer.

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Welche Eindrücke/Begegnungen/Erfahrungen hast du mit nach Berlin genommen?

Als ich zurück nach Berlin kam, hatte ich das Gefühl auf einem anderen Stern gelandet zu sein. Es hat ein paar Wochen gedauert, bis ich ins Leben zurückgefunden habe und einige meiner Freunde haben sicher die Augen verdreht, wenn ich nicht hingeschaut habe. Mir erschien alles (besonders Supermärkte und Straßen) als wahnsinnig artifiziell, geradezu fanatisch ordentlich und rechtwinklig. Ich habe mich gefragt, wozu all die Gegenstände die wir besitzen notwendig sind, und wofür wir all das Geld ausgeben.

Im Grunde eigentlich die ganz normale Identitätskrise, wenn ein Wohlstandskind aus dem „Westen“ in Asien reist. Das Klischee habe ich wohl voll bedient, meine Erfahrungen mit der Zeit aber reflektiert und eingeordnet. Ich schäme mich nicht dafür, wie und wo ich lebe, aber es ist hilfreich für den eigenen Horizont, auch das Gegenteil gesehen und erfahren zu haben.

Am meisten irritiert hat mich aber die Stille. In Nepal bellten immer überall Hunde, Kinderlachen schallte durch die Gassen, Motorengeräusche, Hupen, das Brummen der Generatoren… Es hört sich vielleicht komisch an, schließlich ist Berlin eine große und laute Stadt. Im direkten Vergleich ist es aber so: Hier herrscht Totenstille.

Vielen Dank für das großartige Interview!

all images © Carolin Weinkopf