Es ist der erste Januar 2016. Der Tag, an dem man sich all die guten Vorsätze fürs neue Jahr noch am ehesten ins Gewissen ruft. Der Tag, der das neue Jahr einläutet. Sind wir ehrlich, es ist ein Tag wie jeder andere auch. An und für sich ist dieser Tag für mich noch nie etwas Besonderes gewesen. Immerhin habe ich diesen Tag schon exakt 25 Mal seit meiner Geburt erlebt. Und vor allem in den letzten Jahren fühlte sich dieser Tag bis auf wenige Ausnahmen immer ähnlich an: Mit einem leicht hämmernden Kopf versuche ich gegen Mittag mein erstes Auge zu öffnen und beantworte Tausende von Neujahrswünschen mit einer Copy-Paste-Message: „Ja, das wünsche ich dir auch“. Die Kleidung riecht nach kaltem Zigarettenrauch, einer Glühwein-Zimt-Mischung und irgendwie liegt auch etwas von diesem merkwürdig verkohlten Geruch in der Luft, der an das Anzünden eines Streichholzes erinnert. Dieser Tag ist nichts Besonderes und wird es vermutlich auch niemals sein.

Damit hätte ich allerdings glatt gelogen, denn wie sich dieser Tag in den letzten zwei Jahren anfühlte, könnte rückblickend betrachtet unterschiedlicher kaum sein.


2015 war für mich das, was man wohl als Berg- und Talfahrt bezeichnen könnte und begann für mich mit einer Talfahrt, von deren Tiefe ich nichts hätte ahnen können. Apokalypse now. Day Zero. Der freie Fall in die vor mir sich auftauende Erde. „Willkommen in der Hölle, Martin.“ – Ein selbstmitleidiges „Danke für die Einladung“ ist die Antwort, die ich nur stotternd über die Lippen brachte, falls ich dann doch mal etwas zu sagen hatte.

Der erste Tag im Jahr 2015 hat mir nämlich direkt auf eine unschöne Art die schlechtesten Neuigkeiten vor die Füße gekotzt, die ich mir nur vorstellen konnte. Mit nur einer Whatsapp-Nachricht endete für mich eine Freundschaft, eine Liebe, nennen wir es, wie wir wollen – die Beziehung zu einer Person, die ich in meinem Leben nicht mehr missen wollte. Zwar kannte ich sie, die Dame um die es an diesem Tag ging, noch keine zwölf Monate, doch redete ich mir irgendwie ein, sie wäre der Mittelpunkt meines Lebens. Die Sonne auf der Erdumlaufbahn. Der Ruhepol meiner quirligen und manchmal – ja, ich weiß es – nervigen Art.

Es war ein schwarzes Loch, das sich plötzlich vor mir auftat. Ein Berg, den ich niemals überwinden zu können glaubte. Der Gedanke, diese Person nicht mehr bei mir zu haben, riss mir den Boden unter den Füßen weg. The Day after Tomorrow, ja die ganze Zukunft redete ich mir madig. Da konnten auch all die gut gemeinten Ratschläge meiner Freunde nicht helfen. Contenance bewahren? Fehlanzeige. Mich auf das Wesentliche konzentrieren, wie es mir alle empfahlen? No way! Schließlich gingen die Definitionen von dem, was meine Freunde und ich als Wesentliche definierten, zu diesem Zeitpunkt so weit auseinander wie niemals zuvor. Für meine Familie war es beispielsweise meine Masterarbeit. Für mich die hübsche Blondine, die nun 1000 km entfernt wohnte und den Kontakt zu mir von jetzt auf gleich einfach beendete.

Und so verbrachte ich die kommenden Wochen und Monate im Wesentlichen – um wieder bei diesem schwammigen Begriff zu bleiben – damit, gegen Mittag aufzustehen und die ekelhaften Mensa-Nudeln von der einen Tellerseite auf die andere zu schieben. Ich hielt es für angebracht, einen kleinen Mittagsschlaf von drei Stunden einzulegen, um mich dann frisch erholt mit dem ständig kreisenden Gedankenschrott in die Bibliothek zu bequemen. Gegen 16 Uhr habe ich dann auch die erste Seite des 400-seitigen Mc Luhan-Wälzers gelesen, der mich noch mehr rot sehen ließ und belohnte mich stattdessen mit dem zehnten Plastikbecherkaffee vom Automaten, während ich eine, zwei, viele Zigaretten rauchte. „60 Minuten an meiner Masterarbeit, das müsste für heute reichen“ und belohnte mich anschließend wieder. Diesmal mit einer Tiefkühlpizza und dem billigsten Weißwein, den der Supermarkt um die Ecke bieten konnte. Ich war müde. Ganze drei Monate dauerhaft müde, aber schlafen, nein, schlafen konnte ich nicht. Das Bett, in dem ich schlief, die Wohnung, in der ich wohnte, das Leben, das ich zu diesem Zeitpunkt führte, konnte ich alles, nur nicht mein Zuhause nennen.

Im Selbstmitleid schwimmend lief Molly Nillsons „I Hope You Die“ tagtäglich im Background und so selbstgerecht ich auch war, schwirrte immer nur die eine Person durch meinen Kopf, der ich so gerne diesen Song gewidmet hätte. Doch nein, auch das würde mir, wie so vieles andere im Leben zu diesem Zeitpunkt schlichtweg keinen Spaß machen. Nichts machte mir Spaß. Es gab nur mich, meine Pizza, haufenweise bitteren Filterkaffee, den billigsten Wein meines Supermarkts, den ich auch gerne mal im Pyjama besuchte, und natürlich die Zigarette, die sozusagen der letzte Strohhalm war, an den ich mich klammern konnte.

Der Frühling rückte näher und während ich es noch immer für schlau hielt, mein Bett nicht zu verlassen, leuchtete allmählich der Gedanke auf, dass das, was ich hier abzog, nicht wirklich mein Ernst sein konnte. „Hallo Martin, du bist 24 und flennst pausenlos rum. Du bist nicht wirklich der Ansicht, dass sich an deiner Situation damit etwas ändern wird?“ Taub und stumm wusste ich diese Frage zunächst in die hinterste Ecke meines 10 Quadratmeter-Zimmers zu schieben, wo sich die Staubmäuse sichtlich Zuhause fühlten. Doch drei bis vier einfache Mausklicks und einige Tage später nahm ich mein Schicksaal selbst in die Hand und buchte einen Flug nach Istanbul. Schließlich wollte ich nicht auch noch meinen Geburtstag in dem Bett feiern, in dem ich die letzten drei Monate meist waagerecht verbrachte. Zum Glück konnte ich auch auf die Freunde zählen, für die ich in den letzten Monate nicht viel übrig hatte und die mir dennoch die Freude bereiteten, den ersten Schritt in die Außenwelt nicht alleine bestreiten zu müssen.

Kaum in Istanbul angekommen, wurde mir eines ziemlich schnell klar: Aus den Augen, aus dem Sinn. Es bedurfte nur eines kleinen Arschtritts, den ich mir selbst verpasste, einer kleinen Ortsänderung und Martin war plötzlich wieder zurück im Leben. Der Martin, der Tinder häufiger benutzt als seine Wetter-App. Der Martin, über den alle gerne mal lachen, weil er wieder einmal über die Strenge geschlagen hat. Der Martin, der tollpatschig wie er ist, die längste Treppe Istanbuls mit dem Gesicht voran bestritt. Der Martin, der mit seinen Freunden seine Geburtstagsnacht zum Tag machte, um morgens bei Sonnenaufgang über den Dächern Istanbuls zu sitzen und hier zu realisieren, dass es etwas Mut und gute Freunde bedarf, um wieder zurück ins Leben zu finden.

Der Rest ist Geschichte: Zurück in Deutschland, zwar einen abgeschlossenem Master in der Hand haltend, trotzdem obdach- und arbeitslos, war sie plötzlich wieder da: Die Freude am Leben. Wer hätte dann noch gedacht, dass ich wenig später mit gepackten Koffern und einem One-Way-Ticket nach Istanbul am Flughafen sitze und mich hier telefonisch eine Jobzusage ereilt? Das Flugzeug flog ohne mich, stattdessen saß ich im Zug nach Berlin, ohne überhaupt zu wissen, was die Zeit mit sich bringen wird. Schließlich hatte ich nichts außer meinem Koffer und dem Gewissen: The show must go on.

Weitere neun Monate später, stehe ich plötzlich am selben besagten Neujahresmorgen auf einem Berg in Österreich und lasse meinen Blick ins Tal schweifen. Der Geruch von kaltem Zigarettenrauch, die Glühweinzimt-Mischung und der etwas verkohlte Geruch schwirren wieder durch die Luft. Doch kam an diesem Tag nun wirklich die erleuchtende Einsicht, dass du den Frieden zunächst mit dir selbst schließen musst. Denk ja nicht, im Leben läuft alles in geordneten Bahnen und alle deine Träume gehen in Erfüllung. Zwar ist es gut zu träumen und zu hoffen, doch musst letztendlich du allein den Mut aufbringen, aufzustehen, wenn du mal wieder gefallen bist. Zwar hoffe ich, diese 90 Tage nicht nochmals durchleben zu müssen, aber Pfff, falls wenn, ich werde auch dann wieder aufstehen.

Apropos: Der Filterkaffee schmeckt wieder!