Ob es wirklich gelingen kann, ein so facettenreiches, individuell wie inniges tiefer als der tiefste See gehendes Gefühl wie die Liebe mit Worten zu beschreiben, ich weiß es nicht. Was ich aber aus eigener Erfahrung weiß, ist, dass die Liebe nur im Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz Bestand haben kann. Und ebenso die beteiligten Liebenden. Ein Ausgleich muss gegeben sein, eben nicht nur im Bezug auf das Wechselspiel zwischen Geben und Nehmen, sondern eben auch zwischen Nähe und Distanz. Dabei beziehe ich die Liebe, über die ich mir gerade Gedanken mache, nicht nur auf die Liebe zwischen (zwei) Menschen, sondern auch auf den Job, den wir lieben, das Haustier, das wir lieben, auf das Hobby, das wir lieben …
Ich möchte es zu Beginn am Jobbeispiel verdeutlichen, weil ich mir dazu aufgrund meiner persönlichen Geschichte schon so viele Gedanken gemacht habe: Wenn ich den Job ausführe, den ich liebe, kann selbst dieser Job zur Hölle werden, wenn ich mich nicht auch immer wieder von ihm entferne. Entfernen nicht nur im Sinne von „die räumliche Distanz suchen, einhalten“, indem ich das Büro (regelmäßig und pünktlich) verlasse. Oder wenn ich im Home-Office arbeite, indem ich meine Rituale durchführe, um die räumliche Distanz zu erlangen ohne eben den Raum an sich zu verlassen.
„Was ich aber aus eigener Erfahrung weiß, ist, dass die Liebe nur im Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz Bestand haben kann. Und ebenso die beteiligten Liebenden.“
Nein, ich meine mit „entfernen“ noch viel mehr: In die innerliche Distanz gehen, im Sinne von „sich von der arbeitenden Ebene und dem Ich als Arbeiter lösen“, dann distanzieren und dann dadurch in die Nähe zur Seins-Ebene, zu meinem eigentlichen Wesen, meinem „höheren Ich“, dem Ich, das mehr als Arbeiter ist, zu blicken, lauschen, schreiten, (an)kommen. Wenn ich das nicht regelmäßig tue, dann bin ich irgendwann, wie sagt man noch so schön, „mit meinem Job verheiratet“. Und dass das in einem mehr als asymmetrischen Verhältnis steht, ich denke, darüber sind wir uns alle einig. Mal bis zum Ende auf den Punkt gedacht: Auf dem Sterbebett wird uns unser Job nicht die Hand halten, das steht fest.
Wer die Distanz zur Arbeit auf einer oder mehreren Ebenen nicht aufbauen und halten kann, der wird unglücklich bis hin zu krank werden. Und ja, das derzeitige Arbeitssystem und z. B. die vermeintlich ständige Erreichbarkeit durch Immer-Online-Sein durch ein immer fortschreitendes digitalisiertes Leben scheint gerade nahezu genau das zu fordern. Ich betone „scheint“.
Genau an diesem Punkt liegt es in unserer eigenen Verantwortung als Mensch die Liebe nicht zu vergessen. Denn nur wenn wir die Liebe zu uns selbst als Mensch eben nicht vergessen, dann schätzen wir uns wert, dann schätzen wir unser Leben wert und dann erkennen wir, dass wir eben nicht nur Arbeiter-Ich sind, sondern viel mehr. Und dann, wenn wir das erkannt haben, dann hat die Liebe zu anderen Menschen und die Offenheit sich verlieben zu können eine wahre Chance. Ich muss gerade dabei an einen Satz aus den Lebensregeln des Dalai Lama denken: „Beachte, dass große Liebe und großer Erfolg immer mit großem Risiko verbunden sind.“
Liebe braucht Mut
Ich möchte jetzt an dieser Stelle nicht näher auf den Zusammenhang zwischen großer Liebe und großem Erfolg eingehen, das ist ein komplettes, eigenes Thema an sich. Ich möchte auf den Punkt hinaus, dass große Liebe mit großem Risiko verbunden ist. Denn ja, auch ich glaube, dass sich nur die Mutigen in die Gefilde der wahren Liebe trauen. Mut zu meinem Sein in meinem wahren Sein ist hier gefragt. Jegliches unauthentisches Sein wird in und durch die Liebe ent-deckt, ent-hüllt, zu Tage gefördert und damit ins Bewusstsein geholt. Nach der rosaroten Wolkenfahrt im anfänglichen Verliebtheitsstadion geht’s zurück auf die Erde. Dann ist die Zeit gekommen, dass sich die bodenständige, nachhaltige Liebe entwickeln kann.
Und da auf dem menschlichen Boden warten eben auch mein Ego, mein Ego-Verstand, meine unzähligen Gefühle, meine Muster und meine Trigger, meine sogenannten Schattenseiten. Diese werden durch die Liebe spürbar für mich. Das ist schon hart und nicht gerade einfach, sondern echt komplex. Aber wer würde schon sagen, dass der Mensch ein einfaches Wesen ist? Es könnte einfach sein, dafür müsste der Mensch aber seine eigene Vielseitigkeit, eben samt seiner komplexen, bunten Gefühlswelt anerkennen und annehmen können und dann sich selbst inklusive seiner Schattenseiten lieben können.
„Jegliches unauthentisches Sein wird in und durch die Liebe ent-deckt, ent-hüllt, zu Tage gefördert und damit ins Bewusstsein geholt. Nach der rosaroten Wolkenfahrt im anfänglichen Verliebtheitsstadion geht’s zurück auf die Erde. Dann ist die Zeit gekommen, dass sich die bodenständige, nachhaltige Liebe entwickeln kann.“
Denn eins ist sicher: Wir alle haben diese Schattenseiten, Macken, Fehler, Nervigkeiten, Schwächen und das Ego. In der Liebe werden diese dann auch spürbar und vor allem sichtbar für das Außen und dann wird’s wirklich unangenehm und eben offensichtlich – zum Beispiel wenn eine Kleinigkeit meines Partners mich zum Explodieren oder typabhängig zum Implodieren bringt. Aber genau da ist dann eben der Mut gefragt, nicht wegzulaufen, nicht aufzugeben, sich nicht zu verkriechen sondern die Situation als Chance zu sehen: Mit Achtsamkeit und der Bereitschaft zum bewussten Erleben werden sich die vermeintlich negativen Situationen als Chancen enthüllen. Chancen, um daran wachsen zu können.
Sie sind das Wasser, was der Same in uns und der Same unserer Partnerschaft, ja, was die Liebe braucht, um größer und stärker zu werden, um zu reifen und um zu ihrer wahren und vollen Blüte zu gelangen. Die schönen, freudigen, zauberhaften Momente sind die Sonne, die der Same der Liebe ebenfalls braucht, um eine wunderschöne Pflanze werden zu können. Sonne und Wasser sind gleichermaßen von Nöten. Die Liebe ist eine Pflanze, die aus Verbundenheit wachsen möchte. Verbunden sind wir als Menschen durch all das Schöne und durch all das vermeintlich Negative, was wir gemeinsam erleben dürfen. All das verbindet uns, macht uns gemeinsam stark und lässt uns dann gemeinsam wachsen.
„Lasst uns mutig sein und auch die schwierigen Situationen mit der Kraft der Liebe und vor allem der Selbstliebe meistern. Genau dafür ist meiner Meinung nach auch in einer Liebesbeziehung das Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz so wichtig.“
Lasst uns mutig sein und auch die schwierigen Situationen mit der Kraft der Liebe und vor allem der Selbstliebe meistern. Genau dafür ist meiner Meinung nach auch in einer Liebesbeziehung das Wechselspiel zwischen Nähe und Distanz so wichtig. Wenn es gerade zum Beispiel in der Beziehung scheiße läuft, dann könnte es hilfreich sein, sich von der ganzen Chose, die nicht läuft, zu distanzieren und sich die Punkte bewusst zu machen, die die Beziehung ausmachen. Sich den Punkten zu nähern, weswegen wir diese Beziehung schätzen. Überwiegen diese immer noch, dann ist doch alles im Lot. Ein wenig Schiefstand ist doch auch ganz normal und dass wir regelmäßig nachjustieren und austesten müssen, wo die angenehme Mitte für beide Liebesparteien liegt.
Für mich ganz persönlich ist in meiner Beziehung auch immer wieder wichtig, die räumliche Distanz und damit das Alleinsein bewusst zu suchen, so verhindern wir das Entstehen von Schieflagen proaktiv und können viel Konfliktpotenzial vermeiden. Doch dafür musste ich erst einmal herausfinden, wie mein Naturell ist, wie ich ticke, was ich brauche, was meine Bedürfnisse sind, um glücklich zu sein. Und dazu gehört für mich eben das regelmäßige Alleinsein, das Besinnen auf mich, das „nur mit meiner Energie umgeben sein“ – Sein.
Und erst als ich das erkannt hatte und mir mein Naturell zugestanden habe, habe ich einen Partner getroffen, der das genauso braucht und lebt. Und immer wenn wir den Mut aufbringen und offen kommunizieren, dass wir Alleinsein-Zeit brauchen, dann kann unsere Liebe wachsen. Und so kann es funktionieren, dass die Distanz einer der ausschlaggebenden Faktoren für mehr qualitative Nähe und dadurch für eine reifende Liebe inmitten des alltäglichen Wahnsinns, Schwachsinns und Sinns ist.