Es scheint kein Jahr zu vergehen, welches nicht ohne gehörigen Gegenwind startet. Jedes Jahr aufs Neue, als könnte ich mir den Wecker danach stellen. Das war bereits vor drei Jahren schon so, war im letzten Jahr nicht anders und das hat sich auch in diesem Jahr nicht erheblich geändert. Es ist doch immer das Gleiche. Nachdem einem die Scheiße erst einmal gehörig um die Ohren fliegt und man glaubt es würde sich Besserung ankündigen, spielt einem das Leben einen Streich und schlägt dann nochmal richtig um sich.
Als wären die Wintermonate in Berlin zudem nicht ohnehin schon viel mehr, als man ertragen könnte, zieht der Frühling den selben Shit mit einem ab. Nach knapp viermonatiger Berlin-Tristesse lässt sich die Sonne auch erstmals kurzzeitig blicken, nur um sich dann wieder hinter den im Nebel hängenden Plattenbauten der Stadt zu verziehen.
Und auch sonst gibt es viel zu viele Anlässe, dieser Stadt keine Sympathie abzugewinnen. Der Busfahrer mault wie jeden Morgen auch die Fahrgäste an, die sich klitschnass in den überfüllten Bus drängen – falls er denn mal kommt. Selbst im Café, in dem ich mir jeden morgen meinen ersten Kaffee hole, bekomme ich Montagmorgen keinen schönen Wochenstart zwischen Tür und Angel gewünscht. Stattdessen bekomme ich meinen Filterkaffee auf den Tresen geknallt. Die Leute, die sich dann doch nach draußen trauen, verstecken sich weit unter der Kapuze ihrer Parkas, um bloß keinen Augenkontakt ertragen zu müssen. Vier Millionen Menschen in einer Stadt der Geister. Keiner will was über den anderen wissen. Berlin im Winter. Alle so Anonym und frustriert. Die Stadt in der sich keiner kennt.
Es gibt wie immer nur noch eine Chance diesem Molloch zu entkommen: Ein Flug muss her. Gesagt, getan. In meinen beiden Freunden Thang und Stefan finde ich motivierte Begleiter und befinde mich bereits vier Tage später im Flieger gen Osten. Doch unsere Reise führt uns nicht etwa in das frühlingshafte Athen oder in das, schon fast für deutsche Verhältnisse tropische, Istanbul. Es geht nach Kiev, die ukrainische Hauptstadt von der man womöglich zunächst einmal ähnliches, wie von der Heimatstadt erwartet: Tristesse, graue Plattenbauten und deprimierte Gesichter.
Der Anflug auf Kiev hat es in sich. Bereits aus der Höhe erblickt man die im morgendlichen Dunst liegenden Tower und eine riesige aus Beton zusammengewürfelte Stadt. Und auch der Flughafen ist nicht besonders charming. Wir rollen über das renovierungsbedürftige Rollfeld, vorbei an Flughafengebäuden, deren Fassade bröckelt, vorbei an einem Flughafenfriedhof verlassener Maschinen. Auch die Fahrt in die Stadt, die vor nicht einmal fünf Jahren eine Revolution erlebte, bringt merkwürdige Gefühle mit sich. Ohne diese richtig einordnen zu können, weiß ich nicht, ob ich mich auf die kommenden drei Tage wirklich freuen kann.
Unsere Gastgeber, Alexander und Anastasia, zwei Freunde von Stefan, zeigen sich allerdings von ihrer besten Seite und damit die Stadt, die wie sie meinen so viel zu bieten hat. Was das zu bedeuten hat, weiß ich zu diesem Zeitpunkt freilich nicht, aber ziemlich schnell wird klar, dass wir eine wundervolle Zeit haben werden, wenn auch nur 10% der Ukrainer so offen, selbstlos und herzlich sind wie die beiden, die ich gerade einmal vor zehn Minuten kennenlernen durfte.
Die Stadt selbst zeigt sich so ziemlich in dem Bild, wie ich mir Kiev auch vorgestellt habe: Brutalistische Architektur zieht sich durch die ganze Stadt, die Straßen haben bessere Zeiten erlebt und auch sonst ist hier alles für den gemeinen Europäer ziemlich rough. Die Revolution vor wenig Jahren zeichnet noch immer ihre Spuren an den grauen, teilweise schwarzen Häuserfronten. Wer genau hinschaut, findet am Maidan sogar noch die Einschusslöcher der verheerenden Schießereien am 21. Dezember 2014. Wem diese entgehen, dem fallen spätestens die roten Rosen auf, die noch immer die Treppen auf dem Maidan verzieren und an die über 100 gefallenen Menschen jener Tage erinnern, die selbstlos für ein besseres Leben kämpften. Was zwischen den fast zusammenstürzend scheinenden Häuserschluchten hingegen überrascht: Coffee-Shops, Breakfast Spots, Boutiquen ukrainischer Designer, Ateliers junger Künstler, Tattoo-Studios, Bars und kleinere Clubs. Fast wie in Kreuzberg, nur eben in Kiev. Jetzt und heute. Ein unerwarteter Anblick, wenn ich an die Fahrt in die Stadt zurückdenke.
Wir ziehen mit Alex, Anastasia und bald auch vielen weiteren Freunden der beiden durch die Straßen der Stadt. Die beiden grüßen hier mal jemanden, winken kurz rüber zu anderer Straßenseite. Man kennt sich in Kiev, obwohl auch in dieser Stadt drei Millionen Menschen leben. Mir gefällt es hier. Die Menschen sind nett zueinander. Man kennt sich, wenn auch nur flüchtig, schätzt sich und auch wenn der Mensch gegenüber nicht der beste Freund ist, so hat man sich zumindest doch mehr entgegenzubringen als ein dürftiges Hallo oder Tschüss. Ziemlich schnell wird auch über die Party des Abends in einem Club namens ‚Closer‚ gesprochen. Es ist einer der Clubs, in dem sich die Jugend Kievs in den letzten Jahren zurückzog, um der Krise des Landes aus dem Weg zu tanzen. Die Dunkelheit der Nacht gehört zwar schon seit vielen Jahren nicht mehr nur den Befürwortern einer Revolution an und dennoch tanzt sich in Kiev eine Jugend dem Morgengrauen entgegen, die der Regierung ihres Landes nicht viel entgegenbringen zu hat, als den erhobenen Mittelfinger.
Die Subkultur der Stadt steckt nach wie vor überall: Vom 1970 entstanden Punk Rock bis zur Rave-Kultur, welche sich vor allem in den letzten Jahren mit einem Aufschrei der Jugend neu gebildet hat. Aus der Revolution hat die Gegenkultur eine neue Blüte erlebt und sich parallel als simples ‚Fuck You‘ gegen Regierung, Korruption und Unterdrückung gebildet. Kein Wunder, dass sich die Rave-Kultur der Stadt jeglicher denkbarer Fesseln entledigt und hinter den verschlossenen Toren der Clubs eine, man möge fast schon sagen, Parallelgesellschaft entwickelt hat. Eine Comfort Zone, die sie auf der Straße vor wenigen Jahren eben nicht mehr fanden. Kein Wunder, dass sich die Menschen versuchen von Vorsicht, Angst und Ungewissheit zu lösen und dem Fremden aber Gleichgesinnten nicht skeptisch, sondern vielmehr mit Neugier gegenüberstehen.
Während der Abend anbricht und die Sonne im Schatten des 20-stöckigen Gebäudes gegenüber unserer Unterkunft versinkt, erwacht die Stadt zu einem neuen, ganz anderen Leben. Es klingelt an unserer Tür: Ich erblicke Alex durch unseren Türspion, der diese Nacht mit uns zum Tag machen will und uns auch verständlicherweise voller Stolz zeigen will, was in den Tiefen des Untergrunds schlummert. Es dauert nicht lang und auch Alex’ Freunde gesellen sich mit einem Drink zu uns. Es dauert, anders als ich es so oft in Berlin erleben musste, nur wenige Minuten bis das Eis bricht und aus Fremden Freunde werden, mit denen man sich die ganze Nacht unterhalten könnte. Über Berlin, über Kiev, über Europa, über gemeinsame Interessen und auch über Ziele im Leben. Und obgleich die Zukunft auch Thema dieses Abends wird, so merkt man hier schnell, dass das Hier und Jetzt für die Jugend in der Ukraine womöglich eine deutlich größere Rolle spielt, als die Zukunft, die dann doch wieder nur Ungewissheit bedeutet.
Was jedoch Gewiss ist, ist die Gegenwart: Die Nacht, die schon mehrere Stunden über der Stadt liegt und in einigen Stunden auch wieder enden wird. Wir drücken unsere Zigaretten aus, setzen uns gemeinsam und mit all unseren neu gewonnenen Freunden ins Taxi und fahren in die Outskirts der Stadt, wo sich diverse Clubs befinden. Es ist derzeit 1 Uhr Nachts und hoch zu den Gattern des Areals strömt die Szene Kievs in ihren Heimathafen – ihr zweites Zuhause. Der Ort, an dem sie sich sicher fühlen. Der Ort, der von ihren Freunden mit eigenen Händen geschaffen wurde. Ein Ort, der wächst, blüht, gedeiht und dabei noch so viel Spielraum lässt, dass das Spielen hier auch Spaß macht. Auf den Treppen hoch in den Club drängen sich die Besucher in der Hoffnung, bald durch die kleine Tür zu gelangen, aus der tiefe Bässe nach außen drängen.
Bis hierhin unterscheidet sich wahrscheinlich keine Party in Berlin von einer Party in Kiev und doch ist alles irgendwie anders. Während sich ein Resting Bitch Face in der Schlange diverser Berliner Clubs als erfolgreich erweist, wird hier gelacht, geflirtet und der Flirt mit den Türstehern auch meistens positiv erwidert und mit dem Einlass in den Club belohnt. Der Club selbst ist in den letzten Jahren mit viel Schweiß und Arbeit nach Do It Yourself-Manier entstanden. Mit den Kosten aus Eintrittsgeldern und Drinks lässt sich das Closer und die überaus renommierten Bookings vermutlich vielleicht gerade einmal finanzieren. Und sollten doch mal ein paar Hrywnja, wie die Währung hier heißt, übrig bleiben, werden diese sofort in den Aus- und Umbau des Clubs oder des Areals drumherum gesteckt, auf dem sich auch eine Radio Station befindet. Profit, so scheint es, steht hier nicht im Vordergrund und dennoch freut sich die Bedienung, als ich ihr umgerechnet einen Euro Trinkgeld für vier Drinks gebe.
Die Stimmung im Club selbst ist kaum vergleichbar mit dem, was ich kenne. Es mag vielleicht daran liegen, dass man hier weniger das Gefühl hat in einen Club zu gehen, für den man viel Eintritt zahlt und vielleicht auch nicht so viele Leute kennt. Es mag aber eher daran liegen, dass feiern hier das komplette Gegenteil bedeutet. Als wir uns den Weg zur Tanzfläche freikämpfen, kommt man hier in ein Gespräch, lernt dort Freunde neu gewonnener Freunde kennen und obgleich hier alle vermeintlich zum Tanzen sind, geht es doch im Endeffekt gefühlt weniger darum. Zumindest für uns. Ich verliere mich dabei, den Club zu erkunden, draußen, beim Sonnenuntergang auf der Terrasse sitzend, die Geschichten anderer Menschen zu hören und zu verstehen, warum der Vibe, der mich schon einige Stunden vorher so begeisterte, ein anderer ist.
Die Sonne steht schon einige Stunden über dem Horizont, als mir Julia auf dem Nachhauseweg vor den Clubtoren erzählte, wie glücklich sich sie schätzen, heute so leben und natürlich auch feiern zu dürfen. Bis vor wenigen Jahren war das nämlich schon längst nicht Gang und Gebe. Obgleich Techno hier der Soundtrack der Veränderung ist, so sehr musste sich die Jugend von Kiev gegen Unterdrückung, Repression und Korruption in den letzten Jahren wehren. Für mich kaum vorstellbar, aber dennoch wahr: Erst vor drei Jahren stürmte maskiertes und bis zu den Zähnen bewaffnetes Militär und die Polizei den Club, um Menschen grundlos zu schikanieren, zu verprügeln und zu guter Letzt auch zu verhaften. „Dies war nicht das erste Mal und wird vermutlich nicht das letzte sein“ sagt Julia und beginnt plötzlich gen Sonnenaufgang zu laufen.
Im Schutz der Nacht sowie im Hier und Jetzt hat sich die Szene von Kiev getreu dem Motto „dancing the way out of history“ etwas erschaffen, für das sie bereit sind zu kämpfen und es mit allen Mitteln zu verteidigen. Obwohl die Zukunft am Anfang des Abends aufgrund ihrer Ungewissheit ein weniger relevantes Thema war, so merkt man am Ende der Nacht doch ziemlich deutlich, dass der Jugend hier doch vielmehr am Glauben an eine bessere Zukunft gelegen ist, als an der Gegenwart. Ich werde das Gefühl nicht los, dass in diesen beiden Kräften wahrscheinlich auch die schillerndste Energie der Menschen eines Landes liegt, welche in den letzten Jahren vieles er- und durchleben mussten.
Fasziniert von der Energie der Kultur, der Offenheit und Selbstlosigkeit der neuen Generation und der Kraft, immer wieder neue Kräfte nach Rückschlägen zu mobilisieren, verlasse ich die Stadt sowie viele neu ans Herz gewachsene Freunde und kehre zurück in eine Stadt, die mir mit ihrem Pessimismus, falschen Eitelkeiten und selbsternannten Klischees manchmal wirklich gehörig auf den Sack geht. In Kiev bröckeln die Fassaden, hier bröckelt einmal mehr mein Bild von Berlin. Eine Stadt, die doch schon alles hat und anscheinend trotzdem niemand vollends zufrieden ist. Eingeschlossen mich.