Stress, Hektik, Chaos – wenn man so durch den Alltag geht, fragt man sich, was wir da eigentlich tagein tagaus so tun. Man trifft so häufig auf gestresste Menschen, die ihre Aufgaben abarbeiten und sich bereits über Nichtigkeiten aufregen, wenn damit ihr getakteter Tagesablauf aus dem Lot gerät. Wahrscheinlich waren wir alle schon mal in einer solchen Situation, wenn wir einen Berg an für uns wichtigen Aufgaben zu erledigen hatten und sich die Welt scheinbar gegen einen verschworen hatte. Aber halten wir in unserer täglichen Routine – ob gestresst oder doch etwas ruhiger – eigentlich noch inne und fragen uns, wie es uns innerlich geht? Müssen wir uns über jede Kleinigkeit aufregen, wenn es uns doch im Grunde ziemlich gut geht, gerade verglichen mit anderen Weltregionen? Spüren wir noch das Glück, das uns gegeben ist und sind wir auch dankbar für die Möglichkeiten und Freiheiten, die wir haben?

„Spüren wir noch das Glück, das uns gegeben ist?“

Dankbarkeit ist das neue Thema, mit welchem wir uns in dieser Kolumne auseinandersetzen wollen. Welche Rolle spielt Dankbarkeit heute in unserem Leben? Und was genau verstehen wir darunter? Ein bestimmtes Gefühl oder einen Geisteszustand? Nützt sie nur dem Gegenüber, der Dankbarkeit von jemandem erfährt oder auch der dankbaren Person? Ist Dankbarkeit ein notwendiger Bestandteil eines glücklichen Lebens? Verhilft sie uns vielleicht zu Glück und Zufriedenheit? Viele Fragen, die ich versuchen will, zumindest für mein Leben hier zu beantworten.

„Was ist Dankbarkeit?“

Wenn ich von Dankbarkeit spreche, meine ich damit ein Gefühl von Wertschätzung oder Anerkennung für Dinge, Personen, Verhaltensweisen, Handlungen, Ereignisse oder Situationen, die sich mindestens subjektiv positiv auf mein Leben oder das anderer auswirken. Das Gefühl baut sich dabei nicht langsam auf, sondern stellt sich plötzlich ein, unabhängig davon, ob es um Dankbarkeit für eine konkrete Handlung oder für etwas viel Allgemeineres geht. So kann ich z. B. dankbar dafür sein, dass mir jemand in einer bestimmten Situation hilft, sodass ich einen direkten Adressaten für meine Dankbarkeit habe, an den ich mich wenden und meinen Dank zum Ausdruck bringen kann. Solch eine situationsgebundene Form von Dankbarkeit werde ich im Folgenden als „konkrete Dankbarkeit“ bezeichnen.

Aber neben dieser konkreten Dankbarkeit gibt es auch eine allgemeinere und umfassendere Art, die dann eintritt, wenn es überhaupt keinen bestimmten Anlass gibt, genau zu diesem Zeitpunkt an diesem Ort dankbar zu sein, aber einen dennoch plötzlich ein Gefühl von großer Dankbarkeit erfüllt. Auf diesen Aspekt werde ich mich im weiteren Verlauf mit der Bezeichnung „allgemeine Dankbarkeit“ beziehen. Wie ist diese zweite Art zu erklären und wofür ist man in solchen Momenten überhaupt dankbar? Bei mir scheint es so zu sein, dass sich dieses Gefühl vor allem dann einstellt, wenn ich mich in einem bestimmten Geisteszustand befinde, der sich als große Aufmerksamkeit oder Wachheit beschreiben ließe. Das Gefühl entsteht also, wenn ich aufmerksam bin und eben gerade nicht tagträume, sondern bewusst die äußere Welt und auch meine innere Verfassung wahrnehme. Deswegen tritt dieses Gefühl auch oft bei oder nach der Meditation auf, weil genau dadurch dieser Geisteszustand der Wachheit gefördert wird.

Mir fallen dann eher Dinge auf, die eigentlich bereits zur Routine geworden sind und von denen ich wie selbstverständlich annehme, dass sie funktionieren. Das kann alles Mögliche umfassen, z. B., dass man Strom und fließend Wasser hat, der PC nicht plötzlich abstürzt etc. Außerdem habe ich in solchen Momenten der allgemeinen Dankbarkeit einen umfassenderen Blick auf mein bisheriges Leben insgesamt. Mir wird bewusst, was für ein Glück ich bisher erfahren habe, allein dadurch, dass ich in diesem Teil der Welt geboren bin und Eltern, Freunde und Partner habe, die mich unterstützen und an mich glauben. Die kleinen oder auch mal größeren Alltagsprobleme treten in solchen Momenten also in den Hintergrund und der eigene Blick wird weiter und richtet sich auf das große Ganze.

„Die kleinen oder auch mal größeren Alltagsprobleme treten in solchen Momenten also in den Hintergrund und der eigene Blick wird weiter und richtet sich auf das große Ganze.“

Damit verbindet sich die Frage nach dem Adressaten der Dankbarkeit, der in konkreten Situationen recht klar scheint. Wem können wir aber danken, wenn wir ein solch allgemeines Gefühl von Dankbarkeit verspüren? Und benötigen wir überhaupt einen Adressaten? Ich denke, die Beantwortung dieser Fragen hängt von der eigenen Lebens- und Weltauffassung ab. Während einige sicher einem Gott oder dem Schicksal danken würden, ist es für andere eher der Zufall oder vielleicht auch eine ganz unbestimmte höhere Kraft. Man kann dabei auch völlig problemlos etwas ganz Undefiniertem, Unbestimmtem dankbar sein; allerdings scheint unsere Dankbarkeit zumindest irgendeinen Adressaten zu benötigen, und sei er noch so unkonkret und vielleicht auch nur in unserer Vorstellung existent. Denn meiner Meinung nach könnte man sonst nicht mehr von Dankbarkeit sprechen, sondern einfach von Glück oder Freude.

Was das Verhältnis von allgemeiner Dankbarkeit für das jetzige Leben und konkreter Dankbarkeit für bestimmte Einzelsituationen betrifft, scheint es mir so zu sein, dass durch ein Gefühl von allgemeiner Dankbarkeit die konkrete befördert wird, da mir, wenn ich aufmerksam durch den Tag gehe, all die kleinen Situationen auffallen, für die ich dankbar sein kann, sei es, wenn mir jemand beim Koffertragen hilft oder sei es, dass eine Person mir einfach nur freundlich begegnet.

Will man Dankbarkeit also definieren, so kann man meiner Meinung nach von einem Gefühl sprechen, das eine Relation beinhaltet, die intern oder extern sein kann, da wir als Subjekte für etwas – sei es konkret oder allgemein – jemandem oder etwas dankbar sind. Das Ganze muss sich nicht notwendigerweise im Außen abspielen, da wir selbstverständlich auch uns selbst danken können, wenn wir es z. B. geschafft haben, größeren Stress abzuhalten und mehr auf uns selbst achtzugeben. Dieses Gefühl wiederum entsteht durch einen Geisteszustand der Aufmerksamkeit und Wachheit, der meiner Meinung nach auch geübt werden kann. Denn wenn wir gleichermaßen auf all das achten, was uns täglich widerfährt, also ohne den guten oder den schlechten Aspekten irgendeinen Vorrang einzuräumen, so nimmt das zumindest im Alltag den schlechten Erfahrungen ihre Kraft, welche sonst drohen, Unzufriedenheit und Undankbarkeit in uns hervorzurufen. Es würden vermutlich die meisten zustimmen, dass im normalen Tagesablauf immer auch zumindest irgendetwas Positives geschieht, das ohne die entsprechende Aufmerksamkeit aber meist untergeht – insbesondere, wenn der Tag von mehreren negativen Erfahrungen geprägt ist.

„Es geht also nicht darum, das Negative auszublenden, sondern vielmehr darum, den Blick nicht ausschließlich darauf zu richten.“

Es geht also nicht darum, das Negative auszublenden, sondern vielmehr darum, den Blick nicht ausschließlich darauf zu richten. Es gilt eben, auch all die guten Dinge zu sehen, die einem tagtäglich widerfahren – und mögen sie noch so klein sein. Und wenn wir es schaffen, unsere gewohnten Abläufe und Umgebungen nicht mehr als selbstverständlich wahrzunehmen, uns also aus unserer Routine befreien, dann entdecken wir plötzlich sehr viele positive Dinge: Eine U-Bahn, die fährt; eine funktionierende Heizung und weitere kleine, aber essentielle Dinge des Alltags.

#lebenkunst4null
#lebenskunst4null ist eine fortlaufende Kolumne auf i-ref.de, in der euch vier Philosophen mit auf die Reise durch ihre Gedanken-und Gefühlswelt zum Thema Leben im 21. Jahrhundert nehmen.