#zeitGEISTer 2: Zwischen Terrasse und Rettungsstelle, ein Text am Rande der Einsamkeit

„Tu es nicht“, brüllte die eine Gehirnhälfte. „Braucht kein Mensch …“ schreien die restlichen Geister im Raum. Doch gleichsam der Tatsache, dass unser aller Meinung mittlerweile im Sekundentakt umfällt, kann ich auch einfach weiter klimpern und dem Wahnsinn freien Lauf lassen. Mit der Klarheit, dass nichts klar ist und ich ohnehin nur verlieren kann, was ich gerade runterschlucke, steht entschieden mehr auf der Schussliste, diesen Text einfach online zu stellen.

Es ist der 02. April 2020 nachmittags, ich stehe auf meiner Terrasse, vor mir tut sich die Schönheit von Berlin auf, der Himmel ist strahlend blau, doch ich könnte mich hässlicher nicht fühlen. Ich habe die letzte Nacht, gleichsam der letzten 6 Wochen, nicht geschlafen. Doch soll es gerade dieser Tag und diese Kulisse sein. In knapp einer Stunde werde ich mich selbst vor einem Herzinfarkt retten. Ich werde lernen, dass nicht mein Geist, sondern mein Körper das Tempo vorgibt, dass Lügen nicht nur kurze Beine, sondern auch schwache Herzen haben. Das es einen Tag X gibt, der alles ändern kann. Doch vor Allem, dass ganz oft, auch wenn wir glauben uns zu kennen, wir nichts tun können, als alles passieren zu lassen.

Ich stehe also da, rauche wie ein Schlot und schütte mir kalten Kaffee ins Glas. Kein Horizont, kein Leben, stattdessen Atemmasken und Tote auf der ganzen Welt, gaffe ich wie ein Bully runter auf die Straße und halte mich an der Mauer fest. Ich bemühe mich hier die Liebe zu finden, will Frieden und Leichtigkeit. Es gelingt mir nicht. Seit fast vier Wochen läuft die Quarantäne, seither habe ich Atemnot. Die Frage nach dem Warum stelle ich mir nicht mehr. Ich habe bis heute keine Therapie gemacht. Das raten mir Freund, Freunde und Familie. Ich rate es mir. Ich rate es mir sogar sehr und tue es doch nicht. Vermutlich will ich nicht graben, in diesem Norman, der ich nun mal bin.

Doch da steht er, der Fernsehturm. Der Fernsehturm und ich. Wie Gäste in ihrer eigenen Stadt. Isoliert. Zwei Telefonate schwirren ebenfalls noch rum. Der letzte noch halbwegs brauchbare Krisencall, mit den Worten „Wir müssen mal reden!“ und die Ansage einer besorgten Kollegin über die bevorstehende Exit-Strategie beim Totalausfall der Firma. Alles muss sofort entschieden werden! COVID-19, der Name und somit das erste schwarze Buch ohne Geschichte. Trauer und Angst umhüllt die Stadt. Im Internet. Auf den Straßen. Im Geiste. Wie kleine fragile Lemminge bewegen sich Menschen durchs größte Wachkoma, dass die Welt je erlebt hat. Nein, ich fühle wirklich nichts mehr, außer ein bebendes Klopfen in der rechten Brust.

Es muss also irgendwo zwischen Terrasse und Rettungsstelle gewesen sein, als mich die Frage umkam: Wenn alles, was in jahrzehntlanger Kleinstarbeit geschaffen wurde, binnen 4 Wochen so abartig einfach auseinanderfallen kann, wie viel Wert hat unsere Leistung dann überhaupt? Oder besser: Wie viel von all dem da draußen kommt eigentlich von uns? Fragen, die keine sind und erst recht keiner beantwortet haben will, sind dieser Tage das Einzige was bleibt, wenn alles nur noch aus jetzt und nachher besteht. Morgen, das scheint ohnehin ein komplett anderes Leben zu sein.

Und wenn schon Leben, was kommt danach? Eine berechtigte Frage, oder nicht? Wenn der Tod auf Gabelstaplern, Massengräbern und dynamischen Grafiken im Sekundentakt brilliert, bleibt es nicht aus, dass die Gedanken auch mal rüber auf die andere Seite wandern: Was wenn ich sterbe? Was wenn sie sterben? Was wenn wir nicht sterben? … und dennoch zerbrechen? Es ist einer dieser Momente, in denen man zum Betrachter des eigenen Ichs wird. Nur noch ein leerer Körper auf einem Stuhl in der Notaufnahme sitzt da, sonst nichts. Ich sah meine eigene Traurigkeit. Mir wurde klar, dass Menschen, wenn sie erst einmal in einer gewissen Weise gebrochen sind, niemals wieder in Ordnung kommen; etwas, das dir niemand erzählt, wenn du jung bist. Doch wirst du altern und mitansehen, wie Menschen einer nach dem anderen zerbrechen. Und du fragst dich unweigerlich, wann du an der Reihe bist oder ob es schon geschehen ist.

„Sauerstoffzufuhr ist in Ordnung, Blutdruck und Herzschlag erhöht!“ – so die Oberärztin, es sind wohl starke Panikattacken. „Schickt ihn mal rüber zur Psychologin!“ Danke Frau Doktor, ja, ich gehe dann wohl mal rüber. „Sie werden aufgerufen!“ tönt da noch wer und ich stotterte leise dahin: „Ohh-kay, danke.“ Es ist schon komisch, wenn Geist und Körper komplett auf Elend schalten, schwindet alles dahin: Sprache? Nicht vorhanden. Selbstvertrauen? Gone. Hoffnung? Erloschen. Ein kleines Häufchen in Not, ich würde wohl selbst nicht hinschauen.

Vier Stunden später hatte mein Fall dann ausreichend Prio, dazwischen sollte ich einen schwer verwahrlosten Mann erleben, der fortlaufend über Blumen sinnierte und einen zweiten Typen im Raum, den ich nur äußerlich wahrnahm. Er und ich waren einander gleichgültig: Er kaputt, ich kaputt, irgendwie fair. Nur das Blumengesäusel, da hingen wir beide drin. Irgendwie kurios. Irgendwie traurig. Irgendwie Corona.

Auch die kleinen Versuche hinter der stinkenden Atemmaske die Gedanken der letzten Tage zu bündeln, steht ohnmächtiges Scheitern gegenüber. Von beruflichem Wahnsinn in Berlin zu meiner Familie in Sachsen und Israel, stelle ich meine Verantwortung über alles und komme aus dem Labyrinth der Unfähigkeit nicht raus. Den Rest kann ich weder in die Länge ziehen noch folgt eine logische Klammer: Ich verließ die Klinik mit Antidepressiva und der Rufnummer einer Psychotherapeutin. Wir telefonieren bis auf Weiteres einmal die Woche und „ … erörtern die Paniken gemeinsam.“ Ansonsten „Gute Besserung!“ hoffen wir beide, dass diese Beziehung nur temporär ist.

Doch worauf will ich hinaus? Liebe Leser, trotz allem Verständnis: Es ist unser Recht wütend zu sein! Es ist unser Recht traurig zu sein. Es ist unser Recht verzweifelt zu sein. Doch vor allem: Es ist unser Recht, nicht Herr oder Frau der Lage zu sein! Egal in welchem Ausmaß COVID-19 dein und mein Leben verändert hat, dieser Tage hatte man zu gerne das Gefühl, wir müssten professioneller sein als wir es jemals könnten. Menschen schlucken alles runter „… weil sie denken, sie dürfen nicht anders. Das ist gefährlich!“ – so meine Ärztin und jeder, der seine Hand nun einmal fest ans Herz drückt, weiß genau, was damit gemeint ist.

Es geht um das Maß der Dinge. Das Aushalten. Das Genug. Um den Tag X. Um die Vereinbarkeit von Allem. Ich habe mich in den vergangenen Wochen mehr belogen denn je. Hab so getan, als könnte ich beherrschen, was auffallend keiner kann. Hab versucht eine Zukunft zu planen, die weder Regierung noch Experten vorhersehen. Hab ent- und umgeworfen. Hab motiviert und war demotiviert. War da und war weg. Doch vor allem: Ich habe die schöne Vergangenheit in die Zukunft gemalt. Das war ein Fehler, dass weiß ich jetzt.

Fakt ist, wir bezeugen hier und jetzt einen historischen Ausblick im Leben, möge er noch so traurig sein. In den kommenden Monaten liegt nichts in unserer Hand, außer das Vertrauen in ein System, dass wir selbst erschaffen haben und das, für viele zu Recht, vielleicht ein fragliches ist.

Nur eins, das muss aufhören: Dieser Tage erliegen wir nur allzu oft dem Gefühl, dass unser Leben nur bis zu einem gewissen Punkt Bedeutung hat und man darüber hinaus alles verhandeln könne. Aber das stimmt nicht. Unsere Bestimmung ist, worauf wir hinausarbeiten, die Zukunft existiert noch nicht! Wir selbst sind das, was als nächstes kommt. Vielleicht müssen wir kriechen, stolpern und fallen, doch werden wir die Stärkeren sein. Die Zukunft, das sind wir.

Liebe. Xn

#zeitGEISTer

Normans Kolumne über die Zeit die uns bleibt und die Geister, die keiner gerufen hat.