Es ist soweit. Ich muss das Rückflugticket kaufen. Dieses Ticket, das während dieser ganzen Reise nie ein Thema war, dieses Ticket, das ich ganz bewusst nicht im Vorfeld gekauft hatte. Ich hatte ja keine Ahnung wie meine Reise verlaufen würde. Wie lange ich Spaß am Reisen haben würde. Kein Rückflugticket und somit kein Rückflugdatum in der Tasche zu haben, hat mir das Gefühl gegeben: Alles ist offen. Es ist noch ganz viel Zeit übrig. Es gibt noch so viel zu sehen, zu entdecken. Und ich kann alles entscheiden: Vielleicht will ich übermorgen heim. Vielleicht erst in drei Monaten.

Jetzt gibt es ein Datum einer wichtigen Familienfeier, und für mich bedeutet das, ein Datum für das Rückflugticket. Und während ich Flüge suche, kommt ein komisches Gefühl in mir auf.

Nach 9 Monaten Abenteuer in Südamerika freue ich mich total wieder auf meine Familie und meine Freunde, alle meine Lieben. Menschen, die ich kenne, denen ich vertrauen kann und mit denen ich keinen „Und, wo kommst du her?“ – Small Talk führen muss. Ich freue mich darauf, einen Ort zu haben, den ich „zuhause“ nennen kann, an dem ich mich auskenne, der zu mir gehört. Ich freue mich darauf, nicht mehr jeden dritten Tag Stadt, Hostel und Leute zu wechseln. Ich freue mich auf feste Dinge, routinierte Abläufe, und meine eigenen vier Wände -in denen ich nicht alles in einen Locker sperren muss, was irgendwie wertvoll sein könnte.

Ich freue mich auf mein eigenes, weiches Daunenbett. Und auf Speckknödel von Mama sowieso. Ich habe eine wunderschöne, spannende und lehrreiche Zeit in Südamerika verbracht. Mein Kopf ist voller Eindrücke, die ich kaum mehr verarbeiten kann. So viele Eindrücke, dass ich viele Dinge, die ich im Vorfeld vorgenommen hatte, nicht geschafft habe, wie etwa meine Reiseerfahrungen in einem Blog zu veröffentlichen. Oder all die versprochenen Postkarten zu schreiben. Es ist an der Zeit, heimzufahren. Und es ist gut.

Aber dieser Rückflug, der hat es in sich. Ich sitze abends vor meinem Laptop am Küchentisch meines Hostels in Bogota und starre aus dem Fenster ins dunkle Nichts. Dieser Rückflug… er löst eine komische Gefühlswelle in mir aus. Zurück. Alles ist vorbei. Es schnürt mir die Luft ab, mein Magen zieht sich zusammen. War‘s das dann jetzt? Es geht mir plötzlich alles viel zu schnell. Ich will plötzlich mehr. Nur noch ein, zwei Monate. Oder vielleicht sollte ich einfach nächstes Jahr nochmal ein paar Monate herkommen? Hier leben. Nicht für immer, aber so ein, zwei Jahre?

Dieses Rückflugticket zu buchen, zerreißt mir das Herz. Es fühlt sich an wie eine Trennung, und zwar eine Trennung von der ganz ganz großen Liebe: Du weißt, es ist vorbei. Aber du kannst nicht loslassen. Loslassen habe ich hier gelernt, dachte ich. Und trotzdem, oder vielleicht grade weil ich hier so viel gelernt habe über mich selbst, kann ich es mir jetzt absolut gar nicht vorstellen, diesen Kontinent zu verlassen. Meinen Herzkontinent. Ich habe hier so viel erlebt, so viele Leute kennengelernt, so viele wunderschöne Landschaften durchwandert. Mich selber überrascht, wie ich sein kann und wie nicht.

Was mir wichtig ist und was nicht. Habe entdeckt, wie sehr Latina ich bin. Vielleicht ist es lächerlich oder total eso, aber ich bin überzeugt, dass ich in einem früheren Leben in Südamerika gelebt habe, und ich glaube sogar, es war Kolumbien. Es fühlt sich an wie ein Zuhause in der Ferne. Ich fühle mich wohl hier. Auch dieser Ort gehört jetzt zu mir. Wie alle die Orte die ich besucht habe in den letzten Monaten, Land für Land, Busfahrt für Busfahrt, Schritt für Schritt.

Der Trennungsschmerz, den ich auf mich zukommen sehe, wenn ich in drei Wochen Südamerika verlasse, ist eine Sache. Da ist aber auch noch dieser Faktor: Wieder nach Hause kommen, zurückkommen. Der Gedanke daran versetzt mich erstmal in Schockstarre. So sehr ich mich darauf freue, so viel Angst habe ich. Nach Hause kommen bedeutet nämlich auch: Zurück in die Realität. Wieder bei Null anfangen. Und damit meine ich komplett Null: Vorerst wieder bei meinen Eltern unterkommen. Wieder in meinem Kinderzimmer schlafen, das eigentlich mittlerweile das Bügelzimmer ist. Einen Job suchen. Und das heißt auch zu wissen, was ich denn machen will. Wo ich leben will. Und wie ich leben will.

Ich habe mir einen Traum erfüllt- und jetzt ist der Traum fast zu Ende. Es war eine unglaublich tolle, schillernde Seifenblase, in der ich durch die südamerikanische Landschaft geschwebt bin. Als Reisende drückt man vielleicht oft ein Auge zu oder manchmal sogar beide, und nimmt nur die tollen Dinge wahr. In dieser Seifenblase war ich praktisch immer in Urlaubsstimmung, relaxt, neugierig, offen, flexibel. Es war spannend, bunt, immer wieder neu, anders, beeindruckend. Die Realität zuhause ist anders. Sie fordert Entscheidungen und braucht Kompromisse. Sie zwingt mich anzukommen, irgendwo. Die Realität zuhause ist eben das sogenannte echte Leben.

Nein. Das geht grade gar nicht. Ich buche den Rückflug morgen, verspreche ich mir selber. Jetzt erstmals durchatmen. Mit einem Kloß im Hals fahre ich zum Lago de Tota, dem größten See Kolumbiens. Es ist kalt und windig und wunderschön. Ich setze mich in einem Hang in ein windschattiges Plätzchen und versuche zu meditieren. Der Blick auf diesen riesigen See, die Stille. Dieses Gefühl unglaublicher Freiheit. Die Tränen kullern an meinen Wangen hinunter. So frei wie ich während dieser Reise war, werde ich nie wieder sein, denke ich plötzlich.

So einfach- und damit meine ich, dass ich nur auf mich und meine Wünsche hören muss, dass ich jetzt entscheiden kann, wo ich morgen hinwill, dass ich tun und lassen kann, wonach mir ist, und dass es keine Rolle spielt wo ich wie bin und warum – ja, so einfach werde ich es nie wieder haben. Den Luxus, fast ein Jahr nicht zu arbeiten, wahrscheinlich auch nicht. Das ist mir klar. Ich blicke über den See und atme tief ein und aus, versuche die dramatischen Kopfknoten zu lösen. Eine Freundin sendet mir im absolut richtigen Moment die Nachricht: „Dein Traum ist nicht zu Ende, sondern du hast ihn verwirklicht.“

Das Gedankenrad beginnt, sich in eine andre Richtung zu drehen. Die Tränen werden weniger, der Kloß im Hals löst sich. Es stimmt. Der wahre Luxus ist, dass ich überhaupt die Möglichkeit hatte, mir diesen Traum zu erfüllen. Es war die beste Investition in mich selber, die ich mir vorstellen kann. Auch wenn es sich wie eine Trennung anfühlt, bin ich dankbar dass ich meinen Herzkontinent überhaupt entdecken konnte. Nein, ich will nicht die letzten drei Wochen Liebeskummer haben, bevor es überhaupt vorbei ist, sondern auch den Rest noch genießen. Ich erinnere mich an den Satz des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel García Marquez, den ich irgendwo gelesen habe: „No llores porque ya se terminó… sonríe, porque sucedió“ – „Weine nicht, weil es vorbei ist. Lächle, weil es überhaupt passiert ist.“ Ich lasse meinen Blick weiter über den See streifen. Okay. Ich kann das. Morgen wird es gebucht, dieses Rückflugticket.