Wer bin ich? Eine simple Frage und doch so schwierig zu beantworten. Aber so interessant diese Frage auch sein mag, scheinen ihr, wenn man sich heute in unserer Gesellschaft umsieht, nur wenige Menschen größere Aufmerksamkeit zu schenken. Für den Großteil hingegen wirkt es so, als sei ihnen (implizit) klar, wer sie sind, sodass sie sich mit dieser Frage gar nicht erst beschäftigen.

Viel größere Relevanz hat dafür offenbar die Frage, wie dieses Ich verbessert werden und leistungsfähiger und schöner gemacht werden kann. Ein „perfektes“ Ich (was auch immer das genau heißen mag) ist die neue Währung, mit der man zum Erfolg kommt – zumindest wollen uns davon im Moment viele Hersteller und Autoren überzeugen. Selbstoptimierung ist das neue Thema, mit dem wir uns in dieser Kolumne befassen werden, ein Konzept, das auf der einen Seite viele treue Anhänger hat und mit dem dadurch auf der anderen Seite viel Geld gemacht werden kann, wie sich an der Unmenge an Ratgeberliteratur oder neuen Fitness-Apps ersehen lässt.

„Ein perfektes Ich (was auch immer das genau heißen mag) ist die neue Währung, mit der man zum Erfolg kommt – zumindest wollen uns davon im Moment viele Hersteller und Autoren überzeugen.“

Das Ziel ist klar: Wir wollen einen perfekten Körper (mit optimalen Blutwerten, BMI etc.) und einen perfekten Geist, der auch unter Stresssituationen optimale Ergebnisse ausspuckt. Wie kommen wir dahin? Dafür muss man sich nur ein bisschen umschauen: Das Essen wird abgewogen, die Laufstrecke und Geschwindigkeit protokolliert und der Tag exakt durchgeplant.

Da wir als Menschen Fortschritt, Leistung und Erfolg in Zahlen messen und das vielleicht objektiv wirklich nur so ausdrücken können, entschließen sich viele dazu, Schrittzähler und andere Messgeräte im Alltag einzusetzen – bis hin zu Extremen wie der „Quantify-yourself“-Bewegung. Einerseits mag das mit einer Art Belohnungsdenken einhergehen: Man ist am Abend zufrieden mit sich selbst, weil man wirklich „sieht“, was man geschafft hat am Tag. Andererseits ist damit aber auch ein großes Frustrationspotenzial verbunden, wenn man abends wieder bemerkt, was man alles nicht geschafft hat und die Zahlen alle nicht dem angestrebten Idealwert entsprechen.

Natürlich ist Selbstoptimierung nicht auf Messbarkeit beschränkt, oft wird ein Aspekt des Alltags komplett geändert, wenn z. B. die Ernährungsweise umgestellt wird. Das kann durchaus auch positiv sein, nämlich wenn man vom intrinsischen Wert dieser Änderung überzeugt ist und dies nicht als einen Unterpunkt der Selbstoptimierung einreiht. Kritisch wird es meiner Meinung nach genau dann, wenn an diese selbstperfektionierenden Maßnahmen eine höhere Glückserwartung geknüpft ist, die dann aber vielleicht gar nicht oder nur kurzfristig eintritt. Langfristig geht es aber um wichtigere Dinge im Leben als die Perfektion des eigenen Ichs, was sich spätestens dann zeigt, wenn ein von außen kommender Schicksalsschlag das ganze Leben umwirft, weil z. B. geliebte Menschen sterben.

„Langfristig geht es aber um wichtigere Dinge im Leben als die Perfektion des eigenen Ichs, was sich spätestens dann zeigt, wenn ein von außen kommender Schicksalsschlag das ganze Leben umwirft, weil z. B. geliebte Menschen sterben.“

Das ist auch schon ein Hinweis auf das eigentliche Problem, das deutlicher wird, wenn man sich den Ursprung dieses Selbstoptimierungsgedankens genauer anschaut. Warum geht es plötzlich nur noch um uns und die Optimierung der eigenen Fähigkeiten und positiven Eigenschaften? Ich will hier natürlich keine allgemeine These aufstellen und kann das Folgende nur aus eigenen Beobachtungen darstellen. Aus meiner Sicht wirkt es so, als ob wir die äußeren Umstände auf unser eigenes Innenleben projizieren.

Im Äußeren sollen wir ständig Erwartungen erfüllen und immer leistungsbereit sein und den bestmöglichen Erfolg erzielen, sei es in der Schule oder in der Uni in Form von Noten oder später in der Arbeitswelt in Form von gelungenen Projekten oder hohen Gehältern oder hohen Positionen. Wir sehen uns also immer damit konfrontiert, vom anderen als Produkt behandelt oder anerkannt zu werden.

Das wird aber oft nicht hinterfragt; wonach wir streben, ist meist Anerkennung und sei es nur als besonders optimiertes, tolles, leistungsfähiges Produkt mit vielen neuen Funktionen. Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, müssen wir aber selbst anfangen, uns als ein solches Produkt zu verstehen und zu behandeln – wir internalisieren den Perfektionismus, den wir davor vielleicht nur auf außen angewandt haben.

„Wonach wir streben, ist meist Anerkennung und sei es nur als besonders optimiertes, tolles, leistungsfähiges Produkt mit vielen neuen Funktionen.“

Und so scheinen wir uns, indem wir uns als optimierbare Produkte ansehen, bei gleichzeitigem Egozentrismus immer mehr von uns selbst zu entfernen und zu entfremden. Wir vergessen, wer wir wirklich sind (wenn wir das denn je wussten) und beschäftigen uns nur noch damit, wie wir dieses Ich immer weiter optimieren können – ohne Rücksicht auf Verluste wie die eigene psychische Gesundheit.

Mit dieser ganzen Messbarkeit und Optimierung verbunden ist zudem auch ein Bedürfnis nach Kontrolle und Struktur: Körperliche und intellektuelle Fähigkeiten sind mehr oder weniger objektiv messbar, das eigene Glück und verschiedene Emotionen jedoch nicht (auch wenn hier vielleicht Utilitaristen widersprechen mögen). Wenn wir aber Messwerte haben und die Faktoren kennen, die diese beeinflussen, so haben wir es auch selbst in der Hand, die genannten Fähigkeiten zum Positiven zu verändern. Das mag mit Blutwerten und Gehirnsportaufgaben eingeschränkt funktionieren, bleibt aber letztlich auf die äußeren Fähigkeiten oder Merkmale des Menschen beschränkt.

„Mit dieser ganzen Messbarkeit und Optimierung verbunden ist zudem auch ein Bedürfnis nach Kontrolle und Struktur: Körperliche und intellektuelle Fähigkeiten sind mehr oder weniger objektiv messbar, das eigene Glück und verschiedene Emotionen jedoch nicht.“

Und auch die sind selbstverständlich nicht immer kontrollierbar: Man muss nur einen Unfall haben und plötzlich funktioniert das eigene Hirn oder ein Arm alles andere als optimal. Daher denke ich, dass die Angst vor Kontrollverlust uns auch dazu bringt, Körperwerte zu messen und uns optimieren zu wollen. An Zahlen kann man sich nun mal festhalten.

Was bis jetzt noch nicht genannt wurde, aber natürlich ebenfalls essentiell ist für das Bedürfnis nach der Pefektionierung des eigenen Ichs: eine Unzufriedenheit mit dem status quo. Und sei es nur auf geringe Weise, in irgendeinem Punkt muss man mit sich selbst unzufrieden sein oder sich in einem Zustand befinden, der der eigenen Meinung nach verbesserungswürdig scheint. Es ist auch nichts Falsches daran, wenn das in einzelnen Aspekten auftritt, schließlich sind die wenigsten vollauf und immer mit sich zufrieden. Wenn man sich aber in jedem einzelnen Aspekt, den man vermeintlich kontrollieren kann, zu perfektionieren sucht – und nichts anderes ist meiner Meinung nach Selbstoptimierung – dann bekommt man schnell ein Problem.

Die Perfektion anzustreben, kann eine gute Motivation sein, allerdings nur, wenn man sich darüber im Klaren ist, dass sie letztlich ein Ideal bleiben wird. Und das ist auch in Ordnung so. Wenn wir den Blick einmal vom eigenen Ich weg auf den anderen lenken, wird doch schnell klar, dass es oft gerade die Unperfektheit und Individualität ist, die wir an anderen Menschen lieben. Wir wollen keine Einheitsroboter, die sich alle bis zum Optimum hin verbessert haben und nur insofern in ihren Fähigkeiten unterscheiden, als manche von ihren Anlagen her z. B. eine größere Körperkraft besitzen.

„Die Perfektion anzustreben, kann eine gute Motivation sein, allerdings nur, wenn man sich darüber im Klaren ist, dass sie letztlich ein Ideal bleiben wird. Und das ist auch in Ordnung so.“

Was aber hat das für Konsequenzen, wenn wir weiterhin einem nicht zu erreichenden und meiner Meinung nach auch nicht erstrebenswerten Ideal hinterherrennen? Das Scheitern ist dann natürlich vorprogrammiert. Auch mit viel Disziplin und Glück wird sich einem irgendwann ein Problem in den Weg stellen, das man nur durch die Konzentration auf sich selbst und die eigene Optimierung nicht aus dem Weg wird räumen können. Die Frage ist, was dann passiert. Wenn man zuvor diese ganze Selbstoptimierung wirklich ernstgenommen hat, kann es gut sein, dass man sich nur noch über diese optimierbaren Faktoren des eigenen Selbst definiert.

Man ist nichts anderes mehr als ein bestimmter IQ kombiniert mit Körpergröße, Gewicht, Fettanteil, Rennstrecke und Ähnliches. Wenn einem all das aber plötzlich nicht mehr weiterhilft, steht man vor dem Aus und muss erst wieder lernen, sich neu zu definieren, am besten über stabilere Faktoren. Was aber sind diese? Und damit sind wir wieder bei der Eingangsfrage angelangt: Wer bin ich? Auch wenn ich diese Frage für mich vielleicht nie vollständig beantworten kann, so hilft doch eine Auseinandersetzung mit ihr, zumindest Teile des eigenen Ichs besser zu erkennen.

„Wir sollten die Dinge tun, die wir tun, weil wir wirklich davon überzeugt sind oder sie wirklich lieben und nicht weil ein bestimmter optimaler Messwert dabei herauskommt. Das bringt uns auch näher zu unserem wahren Ich.“

Zum eigentlichen Wesen gehören meiner Meinung nach auf jeden Fall nicht äußere Faktoren wie körperliche Messwerte, sondern vielmehr Unmessbares wie die eigene innere Stimme, die sich z. B. bei schwierigen Entscheidungen meldet oder wenn es einem körperlich oder psychisch nicht so gut geht. Auf diese Stimme zu hören, wäre sicherlich eine bessere „Anleitung“ zu einem glücklichen Leben als die Optimierung von äußeren Faktoren. Wir sollten die Dinge tun, die wir tun, weil wir wirklich davon überzeugt sind oder sie wirklich lieben und nicht weil ein bestimmter optimaler Messwert dabei herauskommt. Das bringt uns auch näher zu unserem wahren Ich. Das kann man immer noch perfektionieren, wenn man es erstmal gefunden hat – auch wenn ich eher dafür bin, es so anzunehmen, wie es ist.