Sich zu Hause fühlen – wie geht das, wenn man seine Heimat verlassen hat und sie vielleicht für lange Zeit oder nie mehr wiedersieht? Das erste Thema, das wir in unserer Kolumne näher betrachten wollen, ist das Konzept der Gastfreundschaft. Persönlich habe ich bisher, wenn ich ins Ausland gereist bin oder auch für längere Zeit an einem anderen Ort gelebt habe, das Glück gehabt, auf sehr gastfreundliche Menschen zu treffen, die mir das Einleben nicht nur sehr erleichtert haben, sondern durch ihre Freundlichkeit oft genau dieses Gefühl in mir erzeugt haben: sich zu Hause zu fühlen.

Wir sind vier Autoren und werden jeden Monat ein Thema aus unseren vier verschiedenen Perspektiven im Rahmen unserer Lebenskunst4null-Kolumne beleuchten. Da ich für den Januar den ersten Beitrag liefere, bietet es sich an, zunächst ein paar Grundfragen zu besprechen: Wie ist Gastfreundschaft zu definieren und welche Bedeutung nimmt sie zur Zeit in unserem Leben ein? Wollen wir, dass sie einen für uns – immer noch oder wieder – wichtigen Wert repräsentiert? Und stimmen unsere theoretischen Überzeugungen mit der aktuellen Praxis überein? Wenn nicht, was kann dagegen getan werden?


Ein erster Versuch, Gastfreundschaft inhaltlich näher zu bestimmen, könnte so aussehen: Gastfreundschaft als die freiwillige und uneigennützige Bereitschaft, Menschen aus anderen Gebieten oder Regionen bei sich willkommen zu heißen, d. h. ihnen freundlich zu begegnen und ihnen bei etwaigen Problemen oder Fragen bezüglich des neuen Umfelds zu helfen, soweit man das vermag, oder auch einfach nur zuzuhören. Anhand dieser Definition zeigt sich schon, dass dieses Konzept von universaler Bedeutung ist und sein muss, zumindest solange Menschen sich – freiwillig oder unfreiwillig – auf Reisen begeben und in diesem Zuge auf andere Mitmenschen treffen. Damit berührt Gastfreundschaft einen, wenn nicht gar den wichtigsten Aspekt in unserem Leben: Wie wollen wir miteinander umgehen? Wie sollen wir uns gegenüber anderen Menschen verhalten? Gastfreundschaft kann also nur in einem lebenspraktischen Kontext verstanden werden und muss über die reine Theorie hinausgehen.

Die Vorstellung von Gastfreundschaft (in verschiedenen Bedeutungen und Nuancierungen) zieht sich denn auch durch die Zeitalter: Bereits im antiken Griechenland spielt sie eine wichtige Rolle, aber auch sehr viel später wurde es immer wieder für wichtig erachtet, die Bedeutung von Gastfreundschaft hervorzuheben oder zu untersuchen.

Im Folgenden nur zwei Beispiele: Wenn der Athener in Platons Spätwerk die Kleinhändler kritisiert, die die Notlage anderer Menschen ausnutzen, erkennt man dort ex negativo den Wert der Gastfreundschaft: „Jetzt aber ist es so: Wenn jemand um des Geschäfts willen an einsamen Plätzen, die aus allen Richtungen nur über lange Wegstrecken erreichbar sind, Häuser errichtet und Leute, die nicht mehr weiter können, mit einem willkommenen Obdach aufnimmt oder Leute, die von der Gewalt wütender Stürme hergetrieben werden, und diesen friedliche Windstille oder bei Hitze Kühlung anbietet, danach aber ihnen nicht, als hätte er Freunde aufgenommen, freundliche Gastgeschenke im Anschluß an die Aufnahme gibt, sondern sie wie Feinde, die als Gefangene in seine Hand geraten sind, nur gegen ein gewaltiges, ungerechtes und sündhaftes Lösegeld freiläßt, so sind es diese und vergleichbare Formen beschämenden Fehlverhaltens, wie sie in allen derartigen Berufen begegnen, welche der Hilfe in einer Notlage den üblen Ruf eingetragen haben.“ (übers. Schöpsdau)

Sehr viele Jahrhunderte später spricht Immanuel Kant von „H o s p i t a l i t ä t (Wirtbarkeit)“, die er als „das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen von diesem nicht feindselig behandelt zu werden“ definiert. Er grenzt dies aber klar vom Gastrecht ab und spricht von einem Besuchsrecht, auf das alle Menschen Anspruch hätten, d. h. eine Art des gegenseitigen Duldens.

Was machen wir nun aber heute mit der Gastfreundschaft? Beschäftigen wir uns mit diesem Konzept, ob theoretisch oder praktisch? Ich denke, wir können gar nicht mehr anders als uns aktiv damit auseinanderzusetzen. Da die meisten von uns im Alltag ständig auf andere Menschen treffen und diese oft nicht einfach ignorieren können oder wollen, verhalten wir uns zwangsläufig auf eine bestimmte Art und Weise zu ihnen. Damit setzen wir aber automatisch vielleicht unbewusst vorhandene theoretische Annahmen über den richtigen Umgang miteinander in die Praxis um. Wenn diese inneren Vorannahmen aber bereits so stark das Handeln prägen, ist es notwendig, sich erst einmal über diese Vorstellungen bewusst zu werden und sie dann gegebenenfalls zu hinterfragen und zu ändern.

Diese Feststellung mag zwar zunächst recht banal wirken, aber es ist erstaunlich, wie viele eigene Annahmen oder Lebenseinstellungen wir gar nicht „kennen“. Wenn ich Gastfreundschaft im Alltag lebe, bedeutet das für mich also nicht, direkt in die Welt hinauszugehen und freundlich mit anderen umzugehen, weil man das so tun sollte oder beigebracht bekommen hat. Für mich ist das vielmehr die Aufgabe, beim Aufeinandertreffen meines inneren Wesens mit der Außenwelt in keinen Konflikt zu geraten. Konkret heißt das, dass ich mich morgens erst einmal hinsetze und meditiere, um nachzuschauen, wie es mir geht (viele Emotionen bemerkt man nämlich gar nicht und lässt sie vielleicht später an anderen aus) und mit welcher Einstellung ich an den Tag oder auch allgemein an das Leben herangehe. Natürlich klappt das nicht immer so, wie man möchte, aber nach und nach lernt man sich schon besser kennen. Erst dann kann man sich fragen, woher bestimmte Urteile oder Annahmen überhaupt stammen (Erziehung, Gesellschaft etc.) und ob man sie wirklich so annehmen möchte oder doch ganz anders denkt. Ich möchte z. B. anderen Menschen – aus welcher Weltgegend auch immer – freundlich und offen begegnen, unabhängig von der Gesellschaft, in der ich zufällig lebe, oder von den Menschen, die mich positiv oder negativ beeinflussen. Begründen würde ich das einfach damit, dass es meiner Meinung nach richtig ist, anderen Lebewesen und auch sich selbst kein Leid zuzufügen. Natürlich funktioniert dieses Vorhaben auch nicht immer, aber gerade an diesen einzelnen Beispielen, wo es nicht klappt, erfährt man, dass man letztlich nur sich selbst schadet, wenn man die krasse Gegenposition lebt: andere rücksichtslos und unhöflich zu behandeln oder Schlimmeres zu tun.

Und da ich nicht weitere schreckliche Nachrichten hören möchte von brennenden Flüchtlingsunterkünften und ertrinkenden Menschen und das sicher etlichen genauso geht, sollten wir dafür sorgen, dass Gastfreundschaft nicht nur theoretisch als bedeutender Wert unserer Gesellschaft wieder neu in den Vordergrund gerückt wird, sondern auch als Ausdruck des eigenen inneren Wertekatalogs praktisch umgesetzt wird (auch wenn sich hier offenbar auf der ganzen Welt einige dagegen sträuben und wohl immer sträuben werden – aber genau deswegen ist es so wichtig, viele Gegenmeinungen dazu zu lesen, zu schreiben und aktiv umzusetzen!).

Dazu bedarf es nicht einmal großer Taten: Es wäre schon viel getan, wenn jeder Einzelne freundlich und offen mit dem Gegenüber umginge – unabhängig von Nationalität, Religion oder sonstwas (allein dass man sowas überhaupt schreiben muss, ist schon schlimm genug und sagt viel über unsere Gesellschaft). Sollte der andere dann ein Mensch sein, der zufällig nicht auf diesem Stückchen Erde geboren ist wie man selbst, dann sollte man das ruhig als die Chance begreifen, die es ist: neue Perspektiven auf die Welt kennenzulernen und vielleicht auch neue Freunde. Denn wirklich zu Hause fühlt man sich doch erst mit Freunden, sodass beiden Seiten gleichermaßen geholfen ist: Man vermittelt dem Gegenüber ein Gefühl von Zuhause und fühlt sich durch die Freundschaft auch selbst nicht fremd, egal ob man sich in seiner Heimat oder irgendwo anders aufhält.


So viel zu meinen Gedanken zur Gastfreundschaft – was Marcel, Sara und Sascha dazu in den Sinn kommt, wie sie sie (er) leben, erfahrt ihr wie immer hier!

Zitate aus:

Kant, Immanuel: Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf, hg. v. Rudolf Malter, 2., bibl. aktualisierte Ausg., Stuttgart 2008 [S. 21, Ausführungen zum dritten Definitivartikel]. 

Platon. Nomoi (Gesetze). Buch VIII – XII (Platon. Werke IX 2), Übers. und Kommentar von Klaus Schöpsdau, Göttingen 2011 [Leg. XI 919a-b.]. Für eine ausführlichere Behandlung vgl. die Einreisebestimmungen und den Umgang mit Fremden in Leg. XII 952d-953e, die damit schließen: „Nach diesen Gesetzen also soll man alle fremden Männer und Frauen aus einem anderen Land aufnehmen und die eigenen Bürger aussenden, um so Zeus, den Gott der Fremden zu ehren, anstatt durch Essen und Opfer die Vertreibung der Fremden zu bewerkstelligen (wie dies noch heute die Zöglinge des Nils tun) oder durch grausame Erlasse.“ (Leg. XII 953d-e; übers. Schöpsdau) 

Zu einer philosophischen Diskussion zur Asylpolitik zwischen Kant, Adorno, Derrida und Heidegger: http://www.zeit.de/kultur/2015-08/fluechtlingspolitik-philosophie-adorno-heidegger-kant-drama/komplettansicht

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#lebenskunst4null ist eine fortlaufende Kolumne auf i-ref.de, in der euch vier Philosophen mit auf die Reise durch ihre Gedanken-und Gefühlswelt zum Thema Leben im 21. Jahrhundert nehmen.

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