Da steht sie wieder. Wie immer um diese Zeit. Ich habe keine Ahnung, wer sie ist. Aber ich kenne sie gut. Sehr gut sogar. Haus 19. Vierte Etage. Gleiche Uhrzeit. Gleiches Zimmer. Gleiches Fenster. Immerhin steht sie jeden Tag dort. Nur die Arien, die sie immer wieder singt, klingen immer anders. Manchmal kann ich sie gut hören. Andere Male ist es wie in einem Stummfilm. Sie probt vermutlich. Wofür kann ich nicht sagen. Egal eigentlich. Vielleicht probt sie nur für sich. Und für mich. Sie trägt immer das Gleiche. Kein Glitzer. Kein tiefer Ausschnitt. Einfach nur schwarz. Schlichtes schwarz. Als würde sie sich wünschen, dass ich mich nur ihrer Stimme widme und mich nicht ablenken lasse.
Ihr großes Fenster ist ihre Bühne. Jedenfalls für den Moment. Und obwohl ich meinen Stehplatz in meiner Küche wie eine exklusive Loge empfinde, in der man zu diesen Melodien leicht ins Träumen geraten kann, bleibe ich nüchtern. Und kalt. Denn, so wie sie immer dort steht, strahlt sie eine unendliche Trauer aus. Wie ein Kanarienvogel im Käfig, der am liebsten fliegen will. Weit weg. Und hoch hinaus. Ich sehe sie immer zur gleichen Zeit. Nur diesen einen kurzen Augenblick. Und dann verschwindet sie wieder ins Dunkle ihrer Realität. Bis morgen.
In der dritten Etage sind die Vorhänge vor dem Fenster immer zugezogen. Wer wohnt hier? Keine Ahnung. Ich lebe jetzt hier seit knapp fünf Jahren und sehe immer nur diese leblosen Fenster. Seitdem ich meinen Hund adoptiert habe und er mich regelmäßig gegen 7 Uhr weckt, weil er dringend raus muss, habe ich einen besseren Einblick. Immer wenn ich so früh meine Gardinen im Schlafzimmer aufziehe, sind seine Fenster offen. Er lüftet. Vielleicht raucht er. Sein Bett steht direkt am Fenster. Gelbe Bettwäsche. Manchmal rote. Aber nur manchmal. In diesem Bett schläft nur ein Mann. Es ist kein Platz für einen anderen Menschen geplant. Eins zwanzig mal zwei Meter. Größer ist es nicht. Ein Nachttisch. Eine Leselampe. Vermutlich IKEA. Wie alles in dem Zimmer. Was ist das für ein junger Mann, der offensichtlich nicht mehr damit rechnet, je Arm in Arm einzuschlafen? Hat er das Träumen verlernt? Oder gar nie gelernt? Wer bist Du? Ich kann ihn nicht gut genug einschätzen.
Nicht gut genug lesen. In der Regel, wenn ich früh morgens meine Fenster öffne, ist er noch unter der Dusche. Denn wenn ich lang genug warte, erscheint er mit einem bunten Handtuch um die Hüften. Er lässt es fallen, dreht schnell eine Runde zur Kommode und holt eine Boxershort raus. Meistens einfarbig. Eng anliegend. Breiter Bund. Da steht was drauf. Aber ohne Brille kann ich das nicht lesen. Ist ja auch egal. Dann zieht er sich schnell an. Er trägt dünne Kravatten. Und bevor ich sehen kann, ob er auch ein Sakko oder eher eine Prenzlauer-Berg-Nerd-Trikot-Jacke trägt, schließt er wieder sein Fenster. Und zieht die Gardinen zu. Schade.
Im sechsten Stock immer das Gleiche. Sechs Fenster. Hell erleuchtet. Zwei drei Pflanzen. Alles sieht sehr weiträumig aus. Groß. Viel Platz also. Der Raum wird seltsamerweise durch ein Netz getrennt. Wer wird dort gefangen gehalten? Oder was? Immer das gleiche Bild. Keine Menschen. Keine Stimmen. Keine tanzenden Schatten. Nur dieses Licht. Oft brennt es bis tief in die Nacht. Das weiß ich genau. Wenn ich an meinem Tisch im Wohnzimmer sitze, habe ich es genau vor Augen. Und dann geht alles ganz schnell. Und wie ferngesteuert. Wohnt hier überhaupt jemand? Licht aus.
Das Nachbarhaus ist nicht so modern. Die 18 ist älter als die 19. Und nicht so stylish. Versteht sich. Wenn er von der zweiten Etage, sowohl am Samstag als auch am Sonntag, nur mit Unterhose und T-Shirt auf der linken Fensterbank sitzt, liegt sie meistens noch im Bett. Karierte Buntwäsche. Immer blau. Hellblau. Dunkelblau. Alles kariert. Sommer wie Winter. Schwarze Haare. Zersaust. Die Zigarette danach scheint Teil einer routinierten Performance zu sein. Immerhin sprechen sie viel miteinander. Ein Zug. Ein zwei Sätze. Zwischendrin lautes Lachen. Und dann wieder ein Zug. Immer das Gleiche. Und dann geht er wieder rein. Irgendwie langweilig. Doch es hat etwas beruhigendes. Denn sie können sich aufeinander verlassen. Und ich mich auf sie. Hat irgendwie was.
In der dritten Etage steht auch immer ein Mann. Immer auf dem kleinen Balkon. Er starrt immer gerade aus. Vermutlich beobachtet er meine Nachbarn, die ihm genau gegenüber wohnen. Und er raucht. Morgens. Mittags. Abends. Immer. Vermutlich hat er keine Freunde. Nie zieht einer an seiner Zigarette. Dieser verlorene Blick. Diese bedrückende Stille. Raubt mir die Luft. Ich kann ihn nicht lange anschauen, ohne mich dabei ohnmächtig zu fühlen.
Ganz oben. Unterm Dach sehe ich nur den Fernseher. Der steht rechts, schräg an der Wand. Flachbildschirm. Oft Filme und Talkshows. Und manchmal, wenn es ganz dunkel wird und nur noch das Licht dieser Flimmerkiste einen Bruchteil unserer Straße erleuchtet, läuft ein Hetero-Porno in Dauerschleife. Ob jemand dabei eingeschlafen ist? Ist auch egal. Gute Nacht.
In der vierten Etage sitzt am nächsten Morgen ein Mann auf dem Balkon. Ja, noch ein Mann. Wo sind nur die Frauen hin? Warum traut sich kaum eine Frau in dieses Haus? In diese Leben? Den gesamten Tag über sitzt er da. Ein Klappstuhl. Ein Tischchen. Groß genug für Tasse, Thermoskanne und Laptop. Mehr braucht er anscheinend nicht. Er tippt und tippt. Chattet er? Bewirbt er sich? Auf welcher virtuellen Welle surft er gerade? Zwischendrin lacht er seinen Bildschirm an. Ich schätze ihn auf 50plus. Schlank. Groß. Graue Haare. Brille. Trägt meistens nur Hemden. Und keine Karos. Gott sei Dank. Doch bei all diesen Bildern frage ich mich, ob es diesen Gott wirklich gibt. Und wenn es ihn gibt, bleibt meine Frage unbeantwortet. Wie kann er uns nur all diese Einsamkeit zumuten?