DU HAST JA KEINE AHNUNG, WIE SEHR ICH AN DIESEM ORT HÄNGE
„Es ist zu persönlich, das macht es so schwer!“, so meine Antwort auf die Frage des Sitznachbarn im Flugzeug, warum ich zum hundertsten Mal diesen Absatz lösche. „Typ, du hast ja keine Ahnung!“, denke ich. „Keine Ahnung, wie sehr ich an diesem Ort hänge!“ Bei jedem anderen Land ginge es leichter, aber nicht hier – hier in Israel.
Freunde, ihr hört recht. Ich war erneut in Tel Aviv. Genauer: Für acht Tage hatte ich mich versteckt. Unter der Sonne Israels – genau zu Chanukka. Es war großartig. Wie immer! An sich könnte ich es dabei schon belassen: Kurz die Stadt erkunden, ein bisschen Land und Leute, die ein oder andere Galerie, zum Schluss noch Chanukka und die neuste Roastery-Empfehlung. Leichte Kost für alle. Was zum Draufklicken. Mit schönen Bildern.
Ja, das wäre einfach. Eine Reise ist ja immer erst mal eine Reise – egal wo du bist. Vor allem städtische Synergien sind gerne mal gleich: Anreisen! Einchecken! Erkunden! Urban hier. Teuer da. Artifiziell dort. Ob das nun platt tönt oder nicht, sei dahingestellt und ist mir eigentlich auch egal. Fakt ist, vor allem Städtetrips, funktionieren im Wesentlichen, nach dem immer gleichen Prinzip.
Zudem bin ich einer, der ohnehin glaubt, er wisse, wie’s läuft: Am Flughafen zuhause, kein Ziel zu weit und „ … ohnehin alles schon gesehen.“ Ein Tourist, der keiner sein will, vielmehr einer, der überall ein bisschen dazugehört. Irgendwie bescheuert. Irgendwie sinnfrei. Und doch so wahr. Was heißt also anders? Was findet man in Tel Aviv was man woanders nicht findet? Oh man, ich merk’s schon, das wird nicht leicht. Ich will es dennoch versuchen.
Als ich erstmals in TLV aufschlug, bin ich, milde formuliert, emotional explodiert. Die Architektur, die Kultur, die Menschen – es war Liebe auf den ersten Blick. So spannend. So nah. So sexy. Völlig unwissend bestieg ich damals den Flieger, fernab vom Hype, dem so viele erlegen sind, die Tel Aviv zuvor bereisten. Doch mein letzter Aufenthalt ging auch mir unter die Haut. Die Gelassenheit. Der Sexappeal. Die Hitze. TLV, das wird noch spannend.
WENN WÄNDE SPRECHEN KÖNNTEN, WÜRDEN SIE ...
Als „Weiße Stadt“ wird eine Sammlung von über 4.000 Gebäuden in Tel Aviv bezeichnet, die überwiegend im Bauhaus- und internationalen Stil errichtet wurden. Erbaut von meist deutschstämmigen Juden, die nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 aus Deutschland geflohen sind, gehört die „Weiße Stadt“ seit 2003 zum UNESCO-Welterbe. Bereits 2009 wurden knapp 1000 Gebäude der größten Siedlung im Bauhaus-Stil unter Denkmalschutz gestellt. Die schönsten findet ihr auf dem Rothschild Boulevard.
„IN JERUSALEM WIRD GEBETET, IN HAIFA WIRD GEARBEITET UND IN TEL AVIV WIRD GELEBT.“
Frühlingshügel haben die ersten 66 Familien den Ort genannt, auf dessen Sanddünen sie vor knapp 100 Jahren die ersten Gebäude des heutigen Tel Avivs errichteten. Auch heute lebt die Stadt im ewigen Frühling und strahlt wie keine Zweite in Israel. Die dunkelsten Nächte bringen die schillerndsten Sonnenaufgänge und der längste Tag den schönsten Sonnenuntergang. Die Sonne scheint hier 365 Tage im Jahr. Diese Stadt, sie glänzt. So wie die Menschen. Israelis sagen aus gutem Grund: „In Jerusalem wird gebetet, in Haifa wird gearbeitet und in Tel Aviv wird gelebt.“
Stimmt, das spürt man. Von Leben sprechen wir. Genau das wird hier gefeiert. Und zwar so, als gäbe es kein Morgen mehr. Im Schmelztiegel aus Politik, Religion und Krise haben sich die Menschen vor allem für eins entschieden –hier zu sein, egal was kommt.
TEL AVIV FOOD STRIPE - KOSCHER IST ANDERS
Tel Aviv war, ist und bleibt ein Schmelztiegel. In vielerlei Hinsicht. So bunt wie die Kultur so auch das Essen. Alles kann, nichts muss! Auch im Restaurant. Hemmungen gibt’s nicht. Wer glaubt, hier wird nur koscher geschlemmt, irrt gewaltig – Tel Aviv ist, bis auf wenige Ausnahmen, die einzige Stadt in der eine Speise auch nicht koscher sein darf.
Fisch trifft auf Humus, Strudel auf Falafel, Burger auf Baba Ganoush – der Gaumen kennt hier nur ein Gesetz: Vielfalt. Divers sind übrigens auch die Wochenmärkte. Der Carmel zum Beispiel, der nicht ohne Grund als die Küche Tel Avivs bezeichnet wird. Feilschen. Probieren. Schlemmen. Hier gibt’s nur eine Regel – nämlich keine Regel.
Auf diesem Food Strip findet jeder sein Glück: Neben Fisch aus Jaffa über getrocknete Datteln bis zur Kaffeebohne, gibts hier nichts was es nicht gibt. Alles frisch versteht sich!
Also. Verpasst mir bloß die Märkte nicht!
ÜPPIG. ANDERS. PERMANENT. DIE KUNST VON TEL AVIV
Boom hat’s gemacht – auch in TLV. Der Gründerboom der vergangen Jahre zieht die kreativen Motten an die brennende Küste. Ein künstlerisches Potential, dass jahrelang darauf wartete entfesselt zu werden, erfindet sich unter der Sonne Israels jeden Tag neu. Ob Werbewirtschaft, E-Commerce oder die neuste App – es gibt viel zu tun.
Zudem die Kunst: London, Berlin, NYC – TLV? Ja. Auch in Tel Aviv, vor allem im Viertel Florentin – gerne mal Little Brooklyn genannt – sprießen die Galerien und Ateliers aus dem Boden.
Doch nicht nur hier: Auch die Vororte der Stadt werden von kreativen Strömungen infiziert. Wie im Land selbst, treffen sich hier Konflikt und Normalität – was gut ist. Für viele Israelis ist das Bildnis vielmehr ein Katapult, ein Weg nach draußen, ein Art Ventil, für alles was im Landesinneren vorgeht.
Wer sagt, dass in Tel Aviv der Nahostkonflikt schon längst gelöst sei, sollte einfach die hiesigen Künstler aufsuchen um sich mehr oder minder Gewissheit zu verschaffen. Wer glaubt, dass hier nur gefeiert wird, dass Tel Aviv nichts mehr mit dem Israel-Debakel zu tun hat – liegt falsch. Die Menschen verschließen gewiss nicht die Augen, sehen und fühlen mit, funktionieren so gut sie können und wissen sehr wohl was augenscheinlich passiert.
Erlebt es selbst. Seht die Kunst in den Galerien, seht Werke aus dem Westjordanland inmitten israelischer Hochkultur, seht wie palästinensische Schauspieler und jüdische Moderatoren gemeinsam in den Cafés lachen, wie Kreative aus aller Welt Hand in Hand leben.
Ist es der Wunsch nach Freiheit? Die Kunst des Loslassens? Der Plan der Planlosigkeit? Purer Wahnsinn? Reinste Utopie? Oder doch einfach das Leben im Hier und Jetzt, dass die Magie dieser Stadt ausmacht?
Ich weiß es nicht. Keiner weiß das. Einfach zu Leben, statt weiter Fragen zu stellen, finde ich gar nicht so schlecht.
Viel Spaß in Tel Aviv Freunde!