Turbulent ist’s hier in der letzten Zeit gewesen. Politischer Trubel, unsichtbare Bedrohungen und die eigene emotionale Rastlosigkeit, die uns hier in unserer Interimsheimat am Bosporus in der letzten Zeit täglich heimsucht, verlangen nach einem baldigen Perspektivwechsel in größerem Rahmen. Machen wir es kurz: Wir wollen weg aus Istanbul, ab in den Süden des Landes, nochmal eine Türkei entdecken, die uns im Großstadtnebel hier bislang allzuoft verborgen blieb.
Die Hoffnung, dass es diese Türkei gibt, die wir in den vergangenen zweiundhalb Jahren hier in der einen oder anderen Form ja auch schon kennen und lieben lernten, haben wir also noch nicht aufgegeben. Doch Fakt ist, wir arbeiten nicht in der Türkei und haben somit, zumindest beruflich hier für uns keine Ziele in Sicht. Als Freelancer ist man eben ungebunden und mit der richtigen Nationalität lassen sich heute jederzeit und fast überall im Nullkommanichts die Zelte auf- und wieder abbauen. Das können viele Türken zum Beispiel nicht. Viele haben selbst mit Mitte 30 noch nicht das Land verlassen, weil sie es nicht können. Andere wiederum wollen auch gar nicht weg hier. Zu stark ist der Glauben und die Liebe zur eigenen Nation oder schlicht ihrem Zuhause.
Inzwischen laufen die deutschen Medien auch zum Thema Türkei heiß. Immer wieder erreichen uns diese Tage besorgte Nachrichten aus Deutschland: „Geht es euch gut? Wie ist denn die Lage in der Türkei? Eine Freundin wollte demnächst nach Istanbul, ist sich aber unsicher wegen der Unruhen. Wie seht ihr das? Von außen kann man das ja immer nicht sooo gut beurteilen…“ Was antwortet man dann? Von innen kann man das nämlich auch nicht immer sooo gut beurteilen. Fühlen wir uns denn noch sicher hier? Joah. Fahren wir zurzeit gerne Metro? Nein. Halten wir uns viel in den touristischen Dreh- und Angelpunkten der Stadt auf? Nur, wenn absolut nötig.
Noch ist die Bedrohung terroristischer Anschläge hier weitestgehend unsichtbar. Ist das nicht auch der Vorteil des Terrors? Wüsste man, wo man diesen zu erwarten hätte, müsste man einen neuen Namen für dieses Phänomen suchen. Wir könnten uns hier drei Wochen lang in die eigene Wohnung sperren, um dann auf einem Schnellzug von Amsterdam nach Paris…Genug davon. Doch auch fernab der in die unmittelbare Nähe gerückten Gefahr, fühlen wir uns hier in Istanbul nicht mehr wohl. Zu sehr dreht sich unser Alltag inzwischen im Kreis, zu angespannt die Lage, zu angeschlagen die Gemüter, zu anstrengend die alltägliche Begegnung mit dem Anderen. Schließlich kann man nur das Eigene wirklich verändern.
Und doch gibt es nach wie vor noch diese geliebten Ruhepole im hiesigen Alltag, Schlüsselmomente in der Interaktion mit seinem Gegenüber, im Mikrokosmos der türkischen Mahalle, dem Kiez. Unweit von unserem Zuhause in der Baruthane Caddesi liegt der kleine Çay Ocağı (Teeküche) von Ahmet Bey, mit dem passenden Slogan: Çay Burada İçilir (Tee wird hier getrunken). Von außen wie ein winziger Coca-Cola-Popup-Shop verkleidet, beliefert Ahmet von seinem Çay-Flagshipstore aus den gesamten Straßenzug. Setzt man sich in den 4qm großen Laden auf einen der sechs kleinen Hocker oder einfach davor, kommen von nebenan ständig die geschäftigen Händler vorbei und rufen kurz ihre Bestellung ins Innere der Teeküche hinein. Da der Platz in dem Laden nicht für alle reicht, muss man seinen Tee dann auch relativ schnell austrinken, um Platz für den Nächsten zu machen. Viele Frauen sieht man hier nicht.
So kommt es, dass ich als Regular in dem Laden inzwischen auch meine überwiegend pensionierten Spezis habe, mit denen ich hier und da ein paar Wörter Türkisch wechseln kann. Einer davon ist Güngör, 62 Jahre alt, relativ zahnlos aber immer gut gelaunt und redselig. Als ich gestern also dasaß, meinen Tee in der Hand, kam auch Güngör wieder vorbeigeschlendert und setzte sich neben mich. Wir unterhielten uns ein wenig. Er beschwerte sich offen über die vielen Araber die zurzeit, vor allem als Touristen, nach Istanbul kommen und über die Politik im Lande. „Istanbul çok bozulmuş“, klagte er (Istanbul ist hin). Ich erzählte ihm, dass auch wir wegziehen möchten, nämlich in den Süden. Schön sei es dort, bestätigte er mir.
„Ich war neulich mit meiner Familie in Florenz. Das hat mir aber nicht so gut gefallen“, fuhr er fort.
„Wieso“, fragte ich.
„Ach, alles ‘domuz momuz‘ dort“, winkte er ab. (Alles mit Schwein) „Weisst du, ich liebe rakı, beyaz peynir, kavun und pilaki. (Raki, Schafskäse, Honigmelone und Bohnen eingelegt in Öl) So etwas gibt es dort nicht.“
„Aber es gibt doch auch Pizza dort”, konterte ich. „Die ist doch wie Pide und gibt’s auch ohne Schwein.“
„Ja, Pizza, gut. Aber isst man Pizza denn mit Raki“, schaute er mich fragend an, die Antwort wohl schon wissend.
„Eher nicht“, sah ich ein und schwieg. Touché.
„Istanbul ist mein Zuhause, das ist für mich einfach der schönste Ort auf Erden“, fügte er noch hinzu, während ein Auto laut hupend an uns vorbeibrauste.