Bevor meine Reise nach Südamerika losging, war ich nie alleine auf Reisen. Nicht mal für ein paar Tage. Als ich also Ende letzten Jahres beruflich nach Hamburg fahren musste, wollte ich die letzte Gelegenheit nutzen und hab das Wochenende drangehängt. Mit einem klaren Ziel: Ich wollte schauen, wie ich denn so ganz alleine an einem fremden Ort klarkomme. Ich war komplett unorganisiert, weil ich vorher wegen meinem beruflichen Termin keinen Kopf dafür hatte und stand also am Freitag Mittag mit meinem Koffer irgendwo in Hamburg, ohne Hotel und ohne Plan was man denn überhaupt so in Hamburg machen könnte. Ich schliff meinen Koffer durch die Stadt, bis zum Hafen, wo ich eine Hafenrundfahrt machte. Dann setzte ich mich in ein Café. Ich wusste nicht recht, wo ich hinsollte. Ich ging also Richtung Stadtzentrum, immer mit meinem Koffer im Schlepptau, bis mir mein Arm vom Koffer ziehen so weh tat (mir war nicht bewusst gewesen, dass Hamburg so hügelig ist), dass ich einfach im nächsten Hotel eincheckte. Knapp 150€ für eine Nacht.
„Ich hatte gekündigt, um monatelang alleine zu reisen.“
Nein, das ist normalerweise nicht mein Budget. „Es ist ja nur für eine Nacht“, beschwichtige ich mich selber. Ich fühlte mich unglaublich bescheuert und buchte (sobald ich WIFI hatte) für die nächste Nacht ein günstigeres Hotel. Am Samstag zeigte mir ein Freund, der in Hamburg lebt, seine Stadt. Unsre letzte Station war die berühmte „Strandperle“, wo wir uns verabschiedeten. Lange saß ich dort am Strand, alleine auf einem Stein, und schaute den Leuten zu, die mit ihren Kindern und Hunden am Strand entlang schlenderten, und die Freunde, die an den Tischen der Lokale saßen, Bier tranken und lachten. Ich schaute den riesigen Frachtschiffen zu, wie sie auf Hafen zusteuerten, so groß, dass sie die Sonne für ein paar Minuten verdeckten. Ich beobachtete die Leute um mich herum und mir schien, als wäre ich die einzige Person die alleine hier war. Ein unruhiges, beklemmendes Gefühl stieg in mir hoch. Natürlich saß ich nicht das erste Mal alleine irgendwo. Aber es fühlte sich anders an, irgendwie wichtiger, schwerer. Ich hatte gekündigt, um monatelang alleine zu reisen. Vielleicht konnte ich das ja gar nicht, das alleine reisen?
Von all den Szenarien der Dinge die ich alleine machen würde, hatte ich am meisten Angst davor, alleine in ein Restaurant zu gehen. Ich esse daheim oft alleine, aber in Restaurants eigentlich nie. Außerdem bin ich es von meiner Familie gewöhnt, dass viele Leute am Tisch sitzen, je mehr umso besser. Da gibt es viele große Schüsseln und Töpfe in der Tischmitte und jeder bedient sich, es ist meistens laut und lustig und manchmal etwas chaotisch. Und das liebe ich. Den Gedanken, mich alleine in ein Restaurant zu setzen, fand ich immer ziemlich traurig.
Nachdem ich also an diesem Wochenende in Hamburg ewig den Strand entlanggewandert war, beschloss ich, dass es Zeit war für diesen ultimativen Härtetest. Ich hatte einen Tipp für leckeres asiatisches Essen bei mir um die Ecke bekommen, und machte mich auf den Weg zum Restaurant. Das ist Gelegenheit, dachte ich mir. Ich muss mich selber testen. Ich WILL mich selber testen. Ehrlichgesagt, ich war aufgeregter als vor einem ersten Date. Und das war es irgendwie auch: Das erste offizielle Date- mit mir selber. Im Lokal standen schon jede Menge Leute an. Ich stellte mich brav in die Reihe. „Eine Person“, sagte ich kleinlaut zum Kellner. Ich wartete. Und wartete. Und sobald ein Tisch frei wurde, gingen Gruppen vor, Pärchen, Familien. „Alleine?“, fragte mich der Kellner immer wieder. „Ja.“ Dann ging er wieder nachschauen und vergab den Tisch an wen andres. „Ach ja und… Sie, alleine, ja?“, kam er irgendwann an, er hatte sich scheinbar erst wieder daran erinnert, dass ich schon eine ziemliche Weile wartete. Nach 40 Minuten wurde mir tatsächlich ein Platz zugewiesen. An einem 4er Tisch, an dem außen schon zwei Mädels saßen, die sich gerade ihre Männergeschichten erzählten. Ich setzte mich also neben die Mädels, und schaute mich um. Ich hatte das Gefühl, jeder im Raum sah mich an. Und jeder im Raum war in Gesellschaft hier.
Ich war die einzige einsame Seele. Ich war froh, als ich die Karte bekam, um mich darauf zu konzentrieren, was ich denn essen wollte. Da es allerhand Sachen gab, die ich noch nie gehört hatte, bestellte ich einen Teller, auf dem es alle diesen tollen Dinge gemischt gab. Dann holte ich mein Handy raus und stöberte durch meine Bilder (ich hatte kein Internet), so konzentriert als wäre es gerade das Wichtigste auf Erden. Und dann kam der Kellner mit meinem Essen. Ich traute meinen Augen nicht: Eine Riesenplatte!! Die Leute neben mir starrten mich an. Ich wollte im Erdboden versinken. „Dieses kleine Mädel will diese Riesenplatte verdrücken? Alleine?“, fühlte ich durch den Raum schweben. Super, Marlene. Total unauffällig mal wieder. Ich versuchte, mich auf das Essen zu konzentrieren. Nachdem meine Gesichtsröte wieder abschwächte, musste ich über mich selber lachen. Was war schon groß dabei, alleine zu essen? Ich schaute in den Raum und hatte das Gefühl, alle schauten mich an und ich tat ihnen leid. Nein, das war kein tolles Gefühl. Wohin sollte ich schauen? Ich starrte auf meine Platte und leerte sie in Windeseile, bezahlte und machte mich aus dem Staub. Am Heimweg kamen mir große Zweifel. Wie sollte ich eine Reise alleine überleben, wenn es mir schon unangenehm war, alleine zu essen??
Seither sind mehr als fünf Monate vergangen. Und ganz ehrlich: ich habe mich in dieser ganzen Zeit vielleicht drei oder vier Mal wirklich einsam gefühlt. Und zwar meistens nachdem ich grade mit wem für längere Zeit gereist bin. Dann habe ich ein kleines oder großes Tief und muss mich wieder auf das Alleine reisen einstellen. Aber eigentlich waren meine Ängste unbegründet. Heute sitze ich sehr oft alleine in Cafés oder sogar in einem Restaurant und habe kein Problem mehr damit, alleine zu essen. Vielleicht habe ich mich einfach daran gewöhnt, und vor allem denke ich nicht zu viel darüber nach. Manchmal habe ich ein Buch dabei oder ich kritzle Notizen in ein Heft. Oder ich suche mir einfach einen Platz mit einer tollen Aussicht. Sehr oft lerne ich unterwegs oder im Hostel aber auch Leute kennen, mit denen ich dann essen gehe oder was unternehme.
Wie gut mir Alleinsein tut, habe ich erst hier in Lima gelernt. Ich arbeite (als Volunteer über workaway) in einem Hostel und dort kommen viele neue Leute an, aber es ist anders, als wenn ich mich selber als Reisende bewege. Lima war mein Rettungsanker. Ich brauchte eine Pause vom schnellen Reisen. Ich brauchte Stillstand, um meinem Hirn und meinem Herz die Zeit zu geben, die letzten Monate der Reise zu verarbeiten. Ich fühlte mich ausgelaugt, hatte mich selber gestresst mit allem was ich machen und sehen wollte. Das Hostel in dem ich arbeite, ist sehr klein. Untertags, wenn alle Hostelgäste unterwegs sind, habe ich das gesamte Hostel für mich alleine. Und Stille. Ich habe keinen Stress, Lima zu entdecken. Es gibt derzeit nichts Entspannenderes, als Musik zu hören und nichts zu machen. Alleine.
Nur ME, MYSELF and I. Nachdenken. Erinnern. Hinterfragen. Das will und kann ich am liebsten alleine. Die Reise hat viel mit mir gemacht, mich verändert, und das ging so schnell und natürlich, dass ich erst jetzt beim Innehalten gemerkt habe, wie stark. Da sind plötzlich ganz neue Gefühle aufgetaucht, die für lange Zeit irgendwo versteckt waren. Das Alleinsein bringt Gedanken ist Rollen, die ich zuerst lange von mir weggeschoben habe oder mir einfach nicht die Zeit dafür genommen habe. Darüber, was ich im Leben will. Und vor allem: was nicht. Ich kann mir Dinge eingestehen und zugestehen, sehe manches mit anderen Augen. Weil ich auf meine innere Stimme höre und nicht auf die vielen Stimmen, die sonst auf mich einprasseln. Diese innere Stimme höre ich besser, wenn ich alleine bin. All diese Gedanken denke ich besser und klarer, wenn ich alleine bin. Ich finde Antworten auf Fragen, die ich mir gar nie gestellt habe. Ich entdecke Seiten an mir, die ich bisher nicht gekannt habe und fühle, wie ich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gefühlt habe.
„Habe ich mich in den letzten Jahren verloren und finde mich jetzt, ohne mich gesucht zu haben?“
Habe ich mich in den letzten Jahren verloren und finde mich jetzt, ohne mich gesucht zu haben? Es ist schwer zu beschreiben, was die Reise mit mir gemacht hat. Aber ich fühle mich anders. Stärker. Klarer. Ruhiger. Mehr bei mir. Ich habe viel gelernt. Und was ich auf jeden Fall gelernt habe: Das Gefühl, alleine zu sein, hängt nicht davon ab, ob ich unter Leuten bin oder tatsächlich alleine irgendwo sitze. Ich bin keine Eigenbrötlerin. Ich mag einfach die Abwechslung. Nach einem Tag voller neuer Eindrücke, Leute und Erlebnisse ziehe ich mich gerne wieder zurück und höre in mich hinein. Alleine sein kann aber auch Einsamkeit bedeuten. Manchmal fühle ich mich am einsamsten, wenn ich in vollen Hostels bin und irgendwie keinen sozialen Tag habe oder es nicht so richtig flutscht mit den Leuten, die dort sind. Es gibt Tage, an denen ich traurig bin, weil ich die Leute, die mir wichtig sind, nicht um mich habe. Oder vielmehr: Weil ich grade nicht dort bin, wenn sie mich brauchen. Und manchmal bin ich komplett alleine und genieße es genau deshalb. Alleine sein, das hört sich vielleicht traurig an- aber das ist es nicht. Im Gegenteil. Ich glaube sogar, es ist gesund. Und vor allem ist es ein fantastisches Gefühl zu wissen, dass ich so gut alleine sein KANN. Das erste Date mit mir selber in Hamburg, das war nix. Und trotzdem ist die beste Beziehung daraus entstanden, die ich bisher hatte. Ich bin alleine- und dabei so glücklich, wie schon lange nicht mehr.