Eines meiner liebsten Theatererlebnisse geht so: Der Schauspieler Alexander Scheer betritt die Bühne und soll seine Mitspielerin mit einem Lasso einfangen. Nach mindestens vier nicht geglückten Versuchen, wendet er sich an uns, das Publikum. „Leute, ich geh jetzt raus und wir fangen die Szene nochmal neu an. Das mit dem Lasso hat bis jetzt immer geklappt, das kann doch nicht sein!“ Er geht ab und die beiden fangen die Szene von vorne an. Diesmal inklusive geglücktem Lassowurf.
Was ich damit sagen will?
Es ist doch ein unglaublicher, geradezu magischer Vorgang: Da versammeln sich allabendlich ein paar hundert Menschen in einem abgedunkelten Raum und lassen sich, auch von Sitznachbarn und deren Geräuschkulisse, nicht von der Imagination abhalten, dass da vorn auf der Bühne ein paar verkleidete Artgenossen so tun, als wären sie beispielsweise im Königreich Dänemark um 1600 (Hamlet) oder besessen von der Idee, die Liebe eines bürgerlichen Mädchens zu Zeiten der Aufklärung für sich zu gewinnen (Emilia Galotti). Hier im Theater wird allerdings als großer Unterschied zum Film, ganz direkt mit dem Publikum kommuniziert. Ich saß schon in Aufführungen, wo dem Zuschauer nach einem kleinen Hustenanfall vom Schauspieler Gesundheit gewünscht wurde und es kann auch durchaus passieren, dass von der Bühne herab auf ein klingelndes Handy hingewiesen wird. Uns sollte nämlich bewusst sein, dass nicht nur wir die Schauspieler beurteilen, die Schauspieler beurteilen auch ihr Publikum. Aus diesem Grund ist keine Vorstellung wie die andere. Die Rolle des Publikums beziehungsweise des Rezipienten ist deshalb von zentraler Bedeutung, denn erst durch eine geglückte Interaktion zwischen beiden entsteht ein gelungener Theaterabend.
Auch berühmteste Hollywoodschauspieler drängt es deshalb, dieses besondere Erlebnis für sich zu beanspruchen. Kleines Beispiel gefällig? Al Pacino spielte in diesem Jahr in New York in dem Stück ‚China Doll’, Kevin Spacey leitete sogar gleich 10 Jahre lang das ‚Old Vic Theatre’ in London, wo er auch regelmäßig auf der Bühne stand. In seiner bedeutendsten Rolle war er dort als Richard der III. zu sehen, die sich dadurch auszeichnete, dass Spacey regelmäßig ganz direkt mit seinem Publikum sprach. Vielleicht hat er sich davon sogar zu seiner Figur als Präsident Frank Underwood in der Erfolgsserie ‚House of Cards’ inspirieren lassen, die das gleiche Konzept hat.
„Die unmittelbare Direktheit, mit der man dem künstlerischen Ereignis und auch dem Künstler selbst begegnet, ist dabei ein zentrales Merkmal des Theaters.“
Theater als gesellschaftlicher Treffpunkt
Das Theater ist in jeder Stadt ein Ort des gesellschaftlichen Lebens und ein Ort an dem spielerisch historische, literarische und auch politische Grundfragen mit den Mitteln der darstellenden Kunst verhandelt werden können.
Zusammenzukommen um eine Vorstellung zu sehen, sich darüber gemeinsam zu begeistern oder auch zu aufzuregen – das hat Tradition und verbindet Unterhaltung mit Auseinandersetzung. Sich von den Darstellern auf der Bühne in Bann ziehen zu lassen, ihre Virtuosität zu erleben und eine Geschichte hautnah durch den in seine jeweilige Figur verwandelten Spieler erzählt zu bekommen, ist ein einzigartiges Erlebnis, das einem so nur dort geboten werden kann.
Um ein Stück angemessen darbieten zu können, ist es für die Darsteller daher von höchster Wichtigkeit, eine Figur individuell entwickeln zu können, um eine persönliche Verbindung mit ihr zu schaffen. Denn schließlich sind sie es, die mit ihrem Körper und ihrer Persönlichkeit den Theaterabend repräsentieren. Vor den Augen des Publikums durchleben sie größten Schmerz, Eifersucht, Glück, Liebe und Verzweiflung – und das meist komprimiert in zwei, drei Stunden. Es sind ihre reaktivierten Gefühle, ihre Tränen, ihr Lachen – nur das Blut ist künstlich. Eine sehr intime und gleichzeitig höchst professionelle Arbeit, da die Schauspieler dabei immer noch dem Stilwillen des Regisseurs unterlegen sind, denn der bestimmt ganz Zentral die Form, die der Abend bekommen soll.
Die unmittelbare Direktheit, mit der man dem künstlerischen Ereignis und auch dem Künstler selbst begegnet, ist dabei das zentrale Merkmal des Theaters. Denn Theater, das ist Anti-Globalisierung pur. Einen Roman kann man von überall lesen, ein Bild zum selbstgewählten Zeitpunkt betrachten, das Internet steckt schon lange in der Tasche und von uns geschätzte Seiten können abgerufen werden, wann immer wir möchten. Aber das Theater, das erzwingt die Gegenwart von Schauspieler und Zuschauer. Nur hier, nur jetzt, nur gemeinsam! Theater ist deswegen in unserer virtuellen, immer schneller werdenden mobilen Welt zu einem Sehensuchtsmedium der Zukunft geworden.