In unserer Vorankündigung habt ihr es vor wenigen Tagen bereits gelesen. Für mich ging es vergangenes Wochenende für vier Tage nach Belgien. Ziel unserer Reise war nicht wie der Anschein vermuten lässt die belgische Metropole Brüssel, sondern das knapp 40 Kilometer südlich liegende Stadt Charleroi? Ihr habt noch nie von dieser Stadt gehört? Dann ging es uns bis vor 2 Wochen noch ganz ähnlich. Dass die Stadt allerdings durchaus einen Besuch wert ist, das wissen wohl bis dato nur wir.

Charleroi liegt in einem der größten Kohlefördergebiete Belgiens und trägt den etwas tristen Beinamen „Pays Noir“ was so viel wie „Schwarzes Land“ bedeutet. Bereits im Vorfeld durften wir erfahren, dass die 200.000 Einwohner Stadt diesen Beinamen allerdings schon längst nicht mehr verdient, denn die Zeiten des tristen Charlerois sind gezählt. Charleroi ist bunt geworden, hat einen Umbruch erfahren, steckt andererseits noch mitten im Umbruch und mausert sich von der einstigen Industriestadt zur Kulturstadt, die sich seiner Vergangenheit allerdings nicht entziehen will.

Kunst und Kultur sprießt bekanntlich an all den Orten gut, in denen es vorher rau war. Hier gibt es Raum zur Entfaltung, denn Leerstand sorgt für viele neue Optionen die genutzt werden wollen. Überall in der Welt und auch in der belgisches Wallonie. So hatten wir ganze vier Tage Zeit über die Geschichte der belgischen Stadt zu lernen und das neue Charleroi kennenzulernen. Und dieses Charleroi lebt von Kunst und Kultur, die sich überall in der Stadt entfaltet. Unterwegs auf den Spuren der Industriegeschichte stellen wir euch an dieser Stelle 5 kulturelle Hotspots vor, die Charleroi sehenswert machen.

WALKING THE HISTORY: AUF STREET ART TOUR IN CHARLEROI

Charleroi ist, das wurde bereits zu Beginn unserer Reise ziemlich schnell deutlich, eine Stadt, in der Vergangenheit und Gegenwart dicht miteinander verwebt sind. Riesige Industrieruinen im westlichen Teil der Stadt treffen auf beeindruckende Barock-Bauten im Zentrum der Stadt. Graue Fassaden treffen mit Streetart verzierte Gebäude. Verlassene Fabriken treffen auf belebte Straßen in denen Jugendliche ihren Kaffee genießen. Wir sollten und wollten bereits am ersten Nachmittag mehr über die Stadt erfahren, die wir noch nicht so wirklich einzuschätzen wussten.

Mit unserem Guide treffen wir uns im historischen Kern der Stadt am Place Charles II. Von hier aus erkunden wir gemeinsam die Stadt. Was wir zuerst lernten? Charleroi war als einstige Festung gedacht und von den Spaniern 1666 erbaut, allerdings bereits wenig später von Franzosen übernommen. Davon zeugt noch heute die Sankt Chistopherus Basilika, deren Kapelle von Ludwig XIV für die Garnison bestellt wurde und ursprünglich dem heiligen Ludwig geweiht war. Im Jahr 1722 wurde sie umgebaut. Ab diesem Zeitpunkt wird dort der heilige Christopherus verehrt. 1956 spendete Architekt Joseph André dem ohnehin imposanten Gebäude schließlich ein prachtvolles Glasmosaik, das in Belgien einzigartig ist und aus Millionen mit Blattgold verzierten Glassteinchen besteht. Das Rathaus, nur wenige Meter von der Basilika gelegen, ist eines der wenigen Rathäuser der Wallonie, wurde erst 1930 erbaut und hat eine herausragende Stellung für den Art Deco-Stil, der so manche Ecke der Stadt noch bis heute prägt. Ein Teil des Gebäudes ist zudem, egal von welcher Ecke der Stadt, kaum zu übersehen. Der jüngste Belfried Belgiens, der zudem der einzige im soeben genannten Architekturstil hier erbaut wurde.

Mit westlichem Blick vom höchsten Gebäude der Stadt lässt sich eine Epoche der Stadt ausfindig machen, die die Stadt wie keine weitere geprägt hat. Unzählige verlassene Fabriken, hohe Abraumhalden und Schornsteine zeugen von der industriellen Revolution, die die Stadt bis dato am tiefgründigsten prägte. Das ehemalige Bergwerk und Museum Bois Du Cazier zeugt noch heute von einem der wichtigsten Wirtschaftssektoren der industriellen Revolution, erweckt das Zeitalter noch einmal zum Leben und zeigt zudem die Arbeit und das Leben der Arbeiterklasse.

Was von den einstigen Zeiten des Kohlebergbaus zurück geblieben ist, wie in vielen ehemaligen Bergbauregionen, sind vor allem verlassene Gebäude, alte Fabriken und viel ungenutztes Potential. Zum Glück hat sich das Projekt „Asphalte“ genau dem angenommen und lädt nun über mehrere Jahre hinweg international renommierte Streetart Künstler in die Stadt um sie mit manchmal monumentalen und manchmal bescheideneren Werken zu verschönern. Die Kunstwerke sind heute in der ganzen Stadt verteilt, die dadurch zu einem wahrhaftem Freiluftmuseum wurde, an dem auch wir uns kaum sattsehen können.

Dass Charleroi eine Kehrtwende gemacht hat ist Fakt, nicht nur das innere Bild der Stadt hat sich in den letzten Jahren verändert, sondern auch der äußere Blick auf die Stadt. Dafür sorgten unter anderem der spanische Künstler Escif, der Landsmann Sozyone Gonzalez, Maya Hayuk, die ein riesiges abstraktes und farbenfrohes Werk hinterlassen hat oder auch der Däne HuskMItNavn, der sich in seinen Werken von der heutigen Gesellschaft inspirieren lässt. Dem Thema Gesellschaft nimmt sich übrigens auch die Gruppe Hell’O Monsters an, die in ihrem Werk einen metaphorischen Blick auf die komplexe Gesellschaft wagen oder sie sogar kritisieren wie Todd James, der die westliche Kultur mit einem satirischen Blick untersucht. Steve Powers, mit dem wahrscheinlich auffälligstem Werk der Stadt, hingegen versucht mit seinen Gemälden den positiven Charakter der Orte an denen er malt nach außen zu tragen und zaubert auch uns am Ende der Tour ein Lächeln auf die Lippen. Bisous M’Chou!

KUNST, KUNST KUNST: ZU BESUCH IM MUSEE DES BEAUX ARTS

Am Morgen des zweiten Tages stand auch sogleich unser zweiter Programmpunkt an. Wir wollten das Musée des Beaux Arts im Norden der Stadt unter die Lupe nehmen und uns Werke von belgischen Künstlern des 20. Jahrhunderts bis heute ansehen. Wir waren überrascht von der vielseitigen Ausstellung moderner Kunst und konnten neben Bildern von Francois-Joseph Navez, Paul Delvaux und James Ensor sogar ein paar Blicke auf Gemälde des bekannten surrealistischen Malers René Magritte, der in der wallonischen Provinz aufgewachsen ist, erhaschen.

Interessant ist, dass all diese Gemälde, Skulpturen, Installationen, Photographien, Gravuren, Zeichnungen und Keramiken von Künstlern aus der Region geschaffen wurden und uns noch einmal mehr von der beeindruckenden Historie der Gegend überzeugt haben. Das Museum liegt in einem Seitenflügel des Palais des Beaux Arts, welcher primär als Theater und Veranstaltungsort genutzt wird. Das Art déco Gebäude an sich hat einen rauen ehrlichen Charme und wurde in der Nachkriegsmoderne vom belgischen Architekten Joseph André erbaut, der sich, wie bereits zuvor vorgestellt mit einigen weiteren ornamentalen Gebäuden in und um Charleroi verewigt hat.

Der Jardin de Sculptures liegt in einem kleinen lichtdurchfluteten Raum im Oberen Bereich des Gebäudes, wo wir am Ende unseres Besuchs noch ein paar schöne Schnappschüsse knipsen konnten. Das MBArts ist definitiv für alle Kunst- und Kulturinteressierten einen Besuch wert, allerdings würden sich wahrscheinlich zukünftige Besucher aus Deutschland über eine Informationsbroschüre in ihrer Sprache freuen. Nichtsdestoweniger kommt man aber in Charleroi ohne Probleme mit Englisch und ein Paar Resten Schulfranzösisch super zurecht, da man generell überall freundlich aufgeschlossen begrüßt und behandelt wird. Man merkt, dass sich die Bewohner Charlerois sehr freuen, dass der Tourismus Ihr Städtchen belebt und sie sich von Herzen bemühen, dass man einen guten Eindruck der Region Wallonie bekommt.

ZU FUSS AUF DER SCHWARZEN SCHLEIFE BOUCLE NOIR

Am Nachmittag machten wir uns auf den Weg einen Teil des „Boucle Noire“, was soviel heißt wie schwarze Schleife, abzulaufen. Dieser 23 km lange Wanderweg, der durch industrielle, postindustrielle, städtische und semi-ländliche Landschaften läuft, ist gesäumt von den Relikten des industriellen Charlerois und wurde über und über mit Streetart, Graffitis und Tags gesäumt. Wir waren geflashed, welche Silhouetten der alten Stahlfabriken sich vor uns auftaten. Perfekte Fotomotive für alle, die begeistert von verlassenen rauen Gegenden à la Walking Dead sind. Man läuft eine Zeit lang am Fluss Sambre entlang, wo Lastkähne über und über mit Metall beladen an uns vorbeischipperten, bevor Sie von riesigen Metallgreifern mit ohrenbetäubendem Lärm entladen wurden. Diese Industrieburgen versprühen ein ungewohnt magisches Gefühl, man fühlt sich klein und hilflos zwischen all den Schrottbergen und Danger-Schildern – wie ein atemberaubendes Wagnis in eine post-apokalyptische Unterwelt.

Weiter führt der gut markierte Fußweg vorbei an alten Eisenbahnlinien, am ehemaligen Bergbaustandort Bois du Cazier und den damit verbundenen Halden und Schlackenhügeln, welche vollkommen von der Natur zurückerobert wurden und einen perfekten Aussichtspunkt für das gesamte Umland schaffen. Wir waren überrascht von der erneuten Dichte an sehenswerter Streetart, die wir vor die Linse bekamen. Zur Routenplanung gibt es eine passende Playlist, die Stücke der ehemaligen Band Kosmos enthält. Micheline Dufert und Francis Purcel, Musiker der alternativen Rockszene der 70er und 80er Jahre sind Gestalter dieser Route, die uns durch und durch beeindruckt hat. Somit ist der Boucle Noire auf jeden Fall einen Tagestrip wert, auch wenn man nur einen Teil des 23 km Marsches absolviert. Es gibt in Charleroi mittlerweile Events an denen bis zu 400 Leute gleichzeitig den Boucle zusammen ablaufen.

ROCKERILL - DER ALTERNATIVE HOTSPOT DER STADT

Wer sich entlang der Sambre entlang des Boucle Noire der Stadt in westliche Richtung entfernt und in das Herzen der ehemaligen Industrie vordringt, der sollte auf dem Rückweg unbedingt noch einen Zwischenstopp am sogenannten Rockerill einlegen. Der Black Loop verbindet die westlichen Ausläufer der Stadt und führt via Hochbahn auf der gegenüberliegenden Seite des Boucle Noire zurück. Auf halber Strecke befindet sich das Rockerill, von dem uns die Menschen an den Tagen zuvor in der Stadt bereits vorschwärmten. Die alternative Kultur der Stadt wird nicht nur im Palast der Schönen Künste, dem L’Eden und im Quai10 erlebbar, sondern ist auch an zwei weiteren mythischen Orten anwesend: Le Vecteur, den alternativen Künsten gewidmet, und Rockerill, das sich in den Hochöfen ehemaliger Fabrikgebäude befindet organisieren Abendvorstellungen und Kulturveranstaltungen.

Das Rockerill ist so auffällig wie es klingt: Die Fassaden des imposanten Gebäude sind natürlich mit reichlich Kunst verziert und bereits von der Hochbahn aus können wir erahnen, was uns im Inneren der alten Fabrik erwartet. Das Zentrum für urbane Künste fokussiert sich auf Pop- und alternative Kultur und bietet neben Clubnächten, Konzerten, visueller und digitaler Kunst auch Theateraufführungen, Kino-Abende und Ausstellungen. Damit hat sich das Rockerill nicht nur in Charleroi als kreativer Hotspot entwickelt, sondern auch über die Grenzen der Wallonie hinaus.

Zu unserem Glück durften wir nicht nur das ohnehin imposante Gebäude besuchen, sondern mehr oder weniger ungewollt Teil eines Festivals für Performance und angewandte Kunst sein. Beim Festivaleke zeigen Künstler aus ganz Belgien ihre Stücke, die gekonnt zwischen Tanz, Comedy, Theater und Improvisation jonglieren. So wurde aus einem angedacht kurzen Besuch schließlich einer, der erst spät Nachts endete und bei dem wir leiblich spürten, in welchem Aufbruch sich die Stadt gerade befindet. Solltet ihr übrigens an einem Donnerstag in Charleroi sein, dann legen wir euch das „Aperes Industriels“ ans Herz – die wöchentliche Institution ist mittlerweile eine Tradition für alle jungen und jung gebliebenen Einwohner der belgischen Stadt, die wir an diesem Tag richtig lieben lernten.

IM REICH DER NEGATIVE: ZU GAST IM MUSÉE DE LA PHOTOGRAPHIE À CHARLEROI

Der beeindruckendste Programmpunkt unseres dritten Tages war das lokale Fotografiemuseum, welches in einem ehemaligen neugotischen Karmeliterkloster untergebracht ist und mit seinen drei Millionen Negativen und 80.000 Drucken das größte Fotografiemuseum Europas ist. In diesem märchenhaften architektonischen Rahmen wird die vollständige Geschichte der Kunstform Fotografie, von der Erfindung bis zu den aktuellsten zeitgenössichen Entwicklungen skizziert. Neben bis zu 800 entwickelten Fotografien gibt es unterschiedlichste fast vergessene Apparate, die die Historie der Fotografie zusätzlich erlebbar machen.

Die Non-Profit-Organisation Photographie Ouverte wurde 1978 gegründet und fing sofort an, Fotografien und Fotoausrüstung zusammen zu führen, um ein Museum einzurichten. Dank Ankäufen, Schenkungen und Leihgaben musste das Karmeliterkloster sogar mit einem modernen Flügel in Sichtbeton erweitert werden, um zusätzlich neben dem Museum auch Platz für Workshops zu schaffen. Hier wird schon ganz früh Kindern die Funktion der Augen und der Umgang mit der Fotokamera nahegebracht. Beides ist sich nämlich garnicht so unähnlich. Neben der chronologischen Dauerausstellung, die thematisch gruppiert und regelmäßig angepasst wird, waren wir begeistert von den temporären Ausstellungen „A Love Supreme“ um Liliane Vertessen und „Entrechats“ von Jane Evelyn Atwood. Ein kleiner Tip, wenn man eine Pause von der Vielzahl an Abzügen braucht, sollte man unbedingt einen Café Crème im Bistro trinken und den 8.500 m² umlaufenden Park bei einem Spaziergang erkunden, auch da im Park zwei Buchen und eine Platane stehen, die in die Liste der bemerkenswertesten Bäume aufgenommen wurden.

KOOPERATION

Dieser Beitrag ist in Kooperation mit Belgien Tourismus Wallonie entstanden: Sämtliche redaktionell erstellten Inhalte bleiben von der Zusammenarbeit unberührt.

Wenn ihr mehr über die Region lesen wollt, dann besucht auch den Facebook, Instagram und Twitter Channel oder die Website der Wallonie. Wir danken für das wunderbare Programm sowie die Organisation der Urban Safari nach Charleroi.