Als ich Begann erstmals Worte für meine Wochenende Ende Mai in Barcelona zu finden, musste ich ziemlich schnell feststellen, dass das hier auch meine Kolumne werden könnte. Zu viele positive Eindrücke habe ich meinem zweiten Jahr beim Festival am Stadtstrand von Barcelona gesammelt. Mit zu vielen Emotionen stieg ich zurück in den Flieger nach Berlin. Wer mich kennt, der weiß welche Rolle Musik in meinem Leben spielt und wie viele Glückshormone so ein Festival bei mir freisetzen kann. Nachdem ich die Zeilen zum hundertsten Mal gelöscht und neu formuliert hatte wurde mir ziemlich schnell klar, dass ich wahrscheinlich jedoch keine Worte finden könnte, die nur annähernd beschreiben wie glückstrunken ich am Sonntag Nachmittag mit Ende des Festivals war. Dennoch möchte ich euch nicht vorenthalten wie meine zweite Primavera-Erfahrung war. Doch von Anfang an.
Vom 30. Mai bis zum 1. Juni fand das Primavera Sound erneut im Parc Del Forum, einem riesigen Gelände im Norden der spanischen Hauptstadt unmittelbar am Meer bei Barcelona statt. Mit mehr als 331 Konzerten lockte das Festival, welches von vielen als das beste Festival Europas gefeiert wird, auch in diesem Jahr knapp 220.000 Besucherinnen und Besucher. Auf sage und schreibe 18 Bühnen performten an diesem langen Wochenende nationale und international anerkannte Musiker, welche am Samstag sogar für einen Tagesbesucherrekord von 63.000 Gästen sorgten. Bis hierhin, ein ganz „normales“, wenn auch sehr großes Festival.
Auch das Potpourri an musikalischen Stilrichtungen macht das Primavera noch lange nicht zu dem, was es eigentlich ist. Klar, das Primavera hatte schon immer ein ziemliches gutes Gespür für Bookings und einer ausgewogenen Mischung von Newcomern und Headlinern aus dem Bereichen Hip Hop, R’n’B, Indie, Rock, Pop, Soul und natürlich auch elektronischer Musik wie vor allem das Line Up des letzten Jahres bewies. Doch in diesem Jahr wurde abermals eine Schippe Mut mehr bewiesen und post-avantgardistischen Musikrichtungen Platz gemacht, die man wohl eher auf einem kleineren Underground-Festival vermuten würde und schon gar nicht erst beschreiben kann.
Hinzu kommt, dass beim diesjährigen Primavera erstmalig und nicht vergleichbar mit jedem anderen europäischen Festival, der Frau auf der Bühne Platz gemacht wurde und diese damit auch mit knapper Quote die sonst männlich dominierte Musikszene in Frage stellte. So wurden die Mainslots auf den beiden Hauptbühnen am Samstagabend hauptsächlich von den Frauen in der Musikbranche dominiert, was nicht nur dem Festival gut tat, sondern auch eine klare Message in die große, weite und ja ziemlich männliche Musikwelt.
Erykah Badu, Cardi B, Janelle Monáe, Solange, Robyn, Miley Cyrus oder eben auch die großartig und zurecht als derzeit größte spanische Sängerin gehuldigte Rosalía sorgten nicht nur für volle Stages, sondern bewiesen mit ihren Performances auch, dass sie in Sachen Power, Eleganz und Stimmung ihren männlichen Kollegen auf den Mainstages in Nichts nachstehen. Im Gegenteil, fast enttäuschend war im Vergleich hierzu die Show von Tame Impala, die ich schon so viele Jahre sehen wollte. Die zuvor bei Robyn erlebte Energie schwappte nicht einmal annähernd auf die andere Bühne über.
Zurück zu Rosalía, deren Performance wahrscheinlich für knapp 90% der Besucher am Samstag zum Highlight wurde. Mit ihrem bekannten Mix aus Flamenco und R’n’B begeistert das katalanische und gerade mal 25-jährige Pop-Wunder bei ihrem Heimspiel. Während sie gerade einmal zwei Jahre zuvor auf einer der kleinen Bühnen spielte, sorgte sie bei Sonnenuntergang für volles Haus und überraschte schließlich auch noch mit dem wohl schönsten Duett des Primavera und einer Weltpremiere: Zusammen mit Wunderknabe James Blake performten sie den auf Blakes Album „Assume Form“ veröffentlichten Track „Barefoot in the Park“ und sorgten für DEN Gänsehaut-Moment des Festivals. Zwar wurde vorher schon spekuliert denn schließlich sollte Blake wenige Stunden später noch auf der gegenüberliegenden Mainstage performen, doch aus dem Fantasiegedanken vieler Fans wurde in diesem Moment Realität während sie tatsächlich barfuß im Parc del Forum zu diesem Song tanzten.
Etwas ruhiger aber ähnlich energetisch sorgte am selben Abend auch Blake selbst mit einem knapp eineinhalbstündigem Set erneut für Gänsehautmoment und zeigte sich zudem von einer Seite, die nicht viele von ihm kennen. Wer sein Album „Assume Form“ bereits kennen und lieben gelernt hat der weiß, dass der Londoner Künstler deutlich einen Schritt aus seinem eigenen Schattendasein bewegt hat aber an diesem Abend mit einem überwältigenden Set aus alten und neuen Songs noch einen Schritt weiter über seinen eigenen Schatten sprung und seine Band selbstbewusst wie noch nie durch die Songs dirigierte.
Was sich derweil auf den anderen Bühnen abspielte, strotzt wie gewohnt von dem Primavera-Niveau der vergangen Jahre. Große Bands wie Interpol oder Deerhunter performten Seite an Seite mit herausragenden Solo-Acts wie FKA Twigs und Mac DeMarco, während man auf der kleineren Insel am anderen Ende des Geländes bei Primavera Bits alle elektronischen Acts fand, mit denen man die Nacht noch einmal zum Tag machen beziehungsweise in den Tag bei aufgehender Sonne feiern konnte.
Das Motto der diesjährigen Ausgabe „The New Normal“ hätte treffender nicht formuliert werden können, schließlich wurde mit der diesjährigen Ausgabe des Primavera Sound der bisherige Normalitätsglaube weit über Bord geworfen und der Weg in eine zeitgemäße, längst überfällige Zukunft geebnet. Das Festival ist seit einem Jahr volljährig und ist seit dem letzten Jahr erneut prächtig und schnell gereift und macht seinem Ruf als fortschrittliches, europäisches, inkludierendes Großfestival alle Ehre. Das liegt zum einen daran, dass tatsächlich mehr als die Hälfte der gebuchten Acts Frauen und Genderqueer-Künstler*innen waren. Das Festival schafft es aber darüber hinaus auch jegliche Genre-Grenze mit aller Macht einzufahren und schaffte eine neue belebende Mischung zwischen Pop, Rock, Indie, elektronischer Musik und nahezu allen post-avantgardistischen Strömungen die dazwischen liegen. Während das Festival in diesem Jahr erstmals von vielen Fans totgeglaubt wurde, beweist das Primavera das ganze Gegenteil und erlebt einen neuen Frühling. The New Normal bedeutet in Barcelona an diesem Wochenende aber auch, dass so viele verschiedene Menschen und Menschengruppen unterschiedlichster Herkunft und verschiedensten Backgrounds dicht beieinander stehen, einen respektvollen Umgang hegen und der Welt da draußen beweisen, dass Musik verbindet.
Der Wunsch wurde erhört. Und das noch bevor das diesjährige 19. Primavera seinen krönenden Abschluss fand. Denn bereits am Eingang des Festivals wurden alle Primavera-Liebhaber überrascht. Das Primavera expandiert und findet im kommenden Jahr natürlich nach wie vor auch in Porto und Barcelona aber eben auch erstmals in Los Angeles statt. Der Rest bleibt beim alten. Der Weg für eine offene Zukunft und Gleichberechtigung in der Musikwelt ist damit gelegt und vereint im kommenden Jahr nicht nur die europäischen Fans, sondern weltweit.
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