Manchmal, vor allem, wenn das Wetter trüb über den Dächern hängt und ich durch die Bahnhofshalle zur U-Bahn haste, bleibe ich vor den bläulich leuchtenden Tafeln mit den kantigen weißen Lettern, die dort oben eine eigentümliche Choreographie vollführen, stehen und male mir aus, wie es wohl wäre, wenn man am Schalter mit den gelangweilt dreinblickenden, uniformierten Damen und Herren ein Ticket ohne bestimmtes Ziel lösen könnte. Ich würde mich dann, nur mit den Dingen, die ich am Körper trage, in einen der bereitstehenden Fernzüge setzen- natürlich ohne vorher nachzusehen, wohin mich dieser Zug bringen würde- und dort aussteigen, wo sich der Blick aus dem Fenster am verheißungsvollsten ausnimmt. Meistens, eigentlich immer, verschwinden diese Tagträumereien ziemlich schnell wieder aus meinem Kopf, jedoch nie, ohne einen gewissen Nachhall zu hinterlassen.

Es ist eine romantische Fantasie, aus den eingefahrenen Mustern, den immergleichen Strukturen, dem stressigen Alltag in einem kurzen Moment der Unvernunft auszubrechen und sich kopfüber in ein Abenteuer zu stürzen. Die meisten werden dies naiv und albern nennen, ich selbst halte es ja für abstrus und bin viel zu ängstlich, um zu wagen, was ich mir da einbilde. Und doch kehrt diese Vorstellung immer wieder zu mir zurück.

Vielleicht speist sich daraus meine Faszination für Menschen, die sich mit erstaunlicher Radikalität dafür entschieden haben, komplett aus dem Leben, das für uns so normal ist, ausszusteigen oder sich ihm gar nicht erst zu unterwerfen. Ich selbst bin der Zivilisation und den Vorzügen, die das Leben in einer modernen Gesellschaft mit sich bringt, viel zu sehr verhaftet, um überhaupt einen Gedanken daran zu verlieren. Dabei ist diese klassische Aussteiger-Idee, jede Verbindung zum bisherigen Leben zu kappen, um an einem anderen Ort neu anzufangen, längst nicht nur mehr Hippies und Utopisten vorbehalten, die ihr Leben nicht auf die Reihe bekommen. Bankvorstände, Politiker, Ärzte, Journalisten, die Liste derer, die eines Tages beschlossen haben, alternativen Lebensentwürfen außerhalb moderner Gesellschaften nachzugehen, ist voll von Leuten, denen das Leben nicht nur Zitronen gab.

Ob als Einzelgänger oder in Gruppen von Gleichgesinnten, sie alle leben in einer Art Parallelwelt, die seltsam unwirklich, sonderbar und anders erscheint und genau dadurch ihren Reiz ausübt. Deshalb stellen wir hier fünf Fotografen und ihre Arbeiten vor, die uns Einblick geben in diese so verschiedene Lebenswirklichkeit.

ANTONIO GUERRA

Der in Madrid lebende Fotograf Antonio Guerra interessiert sich brennend für die fortschreitende Veränderung der Landschaft und den menschlichen Umgang damit. Deshalb besuchte er für seine Serie „Y tu sueño?“ eine Kommune von Aussteigern, die sich in Matavenero, einem komplett autarken Dorf in den Bergen nahe der Stadt León niedergelassen haben.

Eine Handvoll Familien lebt hier in völliger Harmonie mit der Natur, die sie umgibt und entwickelte im Laufe der Zeit eine partizipative Gesellschaftsform, die vor allem auf dem Teilen der Ressourcen und Nachhaltigkeit basiert. Die Menschen dieser Gemeinschaft wählten diese alternative Lebensweise fernab der großen Städte aus der Überzeugung von der Notwendigkeit neuer Denk- und Lebensstile.

DANILA TKACHENKO

Danila Tkachenko begab sich auf die Suche nach Menschen, die sich entschlossen hatten, ihr soziales Leben hinter sich zu lassen, um allein in der wilden Natur zu leben. In den russischen Wäldern, weit entfernt von Dörfern, Städten und anderen Menschen fand er sie. Einzelgänger, die zunehmend ihre soziale Identität verloren und sich ganz in ihrer Existenz im Wald auflösten.

Die Frage, die den Fotografen angesichts dieser selbstgewählten Lebensweise umtrieb, lautete: Ist innere Freiheit überhaupt möglich, wenn man sich in die stetigen Kreisläufe einer modernen Gesellschaft begibt, in denen man seine Rolle erfüllen muss?

JORDI RUIZ CIRERA

Für eine Reportage über die Mennoniten, eine Glaubengemeinschaft von evangelischen Freikirchlern, die ihre Heimatländer in Mitteleuropa infolge von religiöser Verfolgungt verließen und sich auf der Suche nach Freiheit auf dem ganzen amerikanischen Kontinent niederließen, verbrachte der aus Barcelona stammende Fotograf Jordi Ruiz Cirera einen Monat bei einer bolivianischen Gemeinde.

Die Mennoniten, annähernd zu vergleichen mit den Amischen in den Staaten, leben in gewisser Distanz zur übrigen Gesellschaft, begegnen technischem Fortschritt mit Skepsis und verfolgen einen eher schlichten Lebensstil.

LUCAS FOGLIA

Lucas Foglia, Fotograf aus New York, reiste von 2006 bis 2010 durch den Südosten der USA, um für seine Serie „A Natural Order“ ein Netzwerk von Menschen zu portätieren und fotografieren, die ihre innerstädtischen Appartments und Vorstadthäuschen aus religiösen, wirtschaftlichen oder ökologischen Motiven gegen selbstgezimmerte Hütten, Wasser aus Brunnen und Ackerbau eintauschten.

Allerdings brach keiner der Porträtierten völlig den Kontakt zur Außenwelt ab: Viele unterhalten Websites, haben Laptops und Handys, die sie über Solarpanels aufladen.

BEN MARCIN

Auf eine ganz andere Form der sozialen Isloation richtete Ben Marcin seine Kamera. Für „The Camps“ fotografierte er die Zeltlager und Bretterbuden von Obdachlosen in und um Baltimore. Gut versteckt unter Büschen und Bäumen entlang von Highways oder hinter großen Shopping Malls, zeugten die Lager nicht allein von der prekären Situation, sondern auch von der Kreativität und Individualität ihrer Erbauer, war doch kein Camp wie das andere. Viele der Campbewohner, mit denen sich der Fotograf während seiner Recherchen unterhielt, betonten, dass ihr Leben auf der Straße einer freien Entscheidung entsprungen wäre. Aus der Art und Weise, wie sie es sagten, habe er aber lesen können, dass es selten eine Wahl gab.